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97. Beitrag: "Zurück in die Vergangenheit" (18. April)

Als ich vor zwei Jahren die "MS Astor" verlassen musste, weil unsere erste Weltreise vorbei war, habe ich vorher drei Tage und hinterher drei Wochen geheult. Ich hatte befürchtet, nie wieder eine so intensive und schöne Zeit erleben zu dürfen, das Schiff nie wieder zu sehen. Doch nun habe ich einen Blick zurück geworfen. Ich war dort. Auf der Astor...
Organisiert hatte das Amadea - Hoteldirektor Rainer Büttner und begleitet haben uns Chefkoch Wolfgang, die stellvertretende Hausdame und der Provisionsmeister Frank. Als wir mit unserer Amadea zwei Tage in Colombo/Sri Lanka lagen, war die Astor im gleichen Hafen. Ich hätte es gar nicht gewusst, wenn nicht eine aufmerksame Brigitte blog - Leserin in ihrem Kommentar über das Zusammentreffen der Amadea und der Astor geschrieben hätte und wenn Rainer Büttner es nicht erzählt hätte. In der Schifffahrtsbranche ist es üblich, dass sich Wege kreuzen, dass Seeleute, die auf verschiedenen Schiffen gearbeitet haben, immer mal wieder auf alte Kollegen oder Schiffe treffen. Sie waren es gewohnt, in die Vergangenheit zu schlüpfen. Für mich war es ein Hammer!
Louisa hüpfte schon den ganzen Vormittag aufgeregt auf dem Deck herum. "Wir fahren zur Astor. Wir fahren zur Astor." Ich war auch aufgeregt. Bis vor dieser Weltreise mit der Amadea war die Astor für mich so präsent. Oft habe ich vom Schiff geträumt und fast immer gewusst, wo die Astor sich gerade aufhielt. Zwei Jahre lang hing ich dem Erlebnis der ersten Weltreise hinterher, konnte auf Fingerschnipp die Namen der Besatzung und deren Funktionen, die Bezeichnungen der Bars und Decks aufzählen und alles vom Flur, über die Kabinen bis zum Besteck im Restaurant in allen Einzelheiten beschreiben.
Jetzt, kurz vorm Wiedersehen, wusste ich nichts mehr. Mein Kopf war leer beim Gedanken an die Astor, mein Herz kühl. Nicht kalt, aber auf keinen Fall mehr so heiß oder zumindest warm wie die letzten zwei Jahre. Diese Weltreise hier, die Personen, Erlebnisse und das wunderschöne Schiff Amadea hatten alles überlagert. Diese Erkenntnis brach kurz vor dem Besuch der Astor über mich herein und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Wie konnte etwas, was einst so großartig und unübertrefflich erschien, so verblassen. Würde es mir mit anderen Erlebnissen und Menschen wohlmöglich auch so gehen und vor allem, würde es anderen Menschen mit mir so gehen?
Als wir dann endlich mit dem Shuttlebus um das Hafengebäude bogen, lag sie vor uns - die Astor. "Mein Gott ist die klein", rief ich spontan aus und war fassungslos. Wie konnte ein Schiff in zwei Jahren so schrumpfen? Es dämmerte mir sofort und erschreckte mich etwas. Die Astor war nicht geschrumpft, ich war gewachsen.
Wir gingen die Gangway hinauf und auch Louisas Schritt war nicht mehr so federnd und hüpfend. Sie war fast etwas scheu. Am Eingang stand der Sicherheitsoffizier. Mir fiel sofort sein Name ein, Christian Zwanzig. Der russische Kapitän der Astor hatte bei den Willkommens- und Abschiedsgalas immer Schwierigkeiten mit der Betonung dieses Namens gehabt. Eigenartigerweise fielen mir keine Erlebnisse mit Christian ein, sondern einige meiner Fotos der Weltreise, auf denen er abgebildet war. Vor zwei Jahren hatte er etwas von "aufhören" und "letzte Reise" erzählt, wie das Leute auf dem Schiff eben so machen. Hier stand er wie Eh und Jeh und freute sich. Wir uns auch.
Amadea - Hoteldirektor Rainer Büttner war kürzlich als Vertretung auf der Astor gewesen. Amadea - Küchenchef Wolfgang Hertle war sechs Jahre Küchenchef auf der Astor gewesen. Amadea - Weltreisegäste Louisa und Anja waren fünf Monate Passagiere auf der Astor gewesen.
Aber uns alle einte ein eigenartiges Lächeln. Es war schon seltsam, zurückzukehren.
Gastgeber José, der den Hoteldirektor Wolfgang Ribitsch heute als Gastgeber vertrat, führte uns in den Überseeclub. War das nicht? Ja, war das nicht? Da saß Herr Maus in seinem Sessel, wie er da vor zwei Jahren schon gesessen hatte. Welche Freude. Der alte Mann erhob sich schwerfällig und lachte. Er war einer jener Weltreisenden, die im Alter das Schiff dem Altersheim oder der Einsamkeit vorziehen. Er fuhr jedes Jahr mit der Astor um die Welt und gehörte schon fast zum Inventar. Wie "Mama", die langsam auf uns zu gelaufen kam. "Mama" war schon vor zwei Jahren als die Passagierin mit den meisten Seemeilen gefeiert worden. Die beiden alten Leute freuten sich riesig. "Groß geworden", sagten sie immer wieder. Das man uns das so ansah? Ach, sie meinten Louisa. Okay. Na, was bei einem Kind so zwei Jahre sind.
"Larissa, Larissa", rief Louisa plötzlich, rannte durch den Überseeclub und fiel der hübschen, blonden Restaurantchefin um den Hals. Welche Freude. Larissa war eine der Crewmitglieder gewesen, die wie wir geweint hatten, als wir abreisen mussten. Ob auf der Amadea auch Jemand weinen wird, wenn wir abreisen? Ich hatte da so meine Zweifel.
Larissa lud mich auf eine heiße Schokolade an die Bar ein und wir ließen unsere Gruppe kurz allein. Ich hatte so viele Fragen. "Wie geht es denn…", "Was macht denn…?" Ich bombardierte sie mit Namen. An viele konnte sie sich nicht mehr erinnern. "Aber er war doch dein Stellvertreter. Aber sie war doch bei dir Kellnerin", sagte ich bestürzt. Es waren wohl zu viele Kollegen, die einer Seefrau so im Laufe ihres Schiffslebens begegnete. Aber uns hatte sie nicht vergessen! Mit wem ich noch Kontakt hätte, wollte Larissa wissen. Ach du meine Güte. Die Frage ging wie ein Blitz durch meinen Körper. Nicht weil sie meine Zeit damals betraf, eher weil sie mir die Realität für meine Freunde auf der Amadea vor Augen hielt. "Vier", sagte ich kleinlaut. Von den vielen, vielen Menschen, die ich auf der Astor kennen gelernt hatte, grob geschätzt 1000 Leute, mit 80 näher bekannt, mit 40 befreundet, mit 15 gut Freund,  waren vier bis heute übrig geblieben. Mit einem, Schlagersänger Michael Holm, hatte ich per E-Mail arbeitstechnisch zu tun. Mit dem Saxofonisten Stephan telefonierte ich aller zwei Monate mal. Mit Sänger Joachim und Deutschlehrerin Undine hatte wir uns nach der Reise gegenseitig besucht und waren bis heute in Telefon- oder E - Mail Kontakt. That´s it. Das war´s. Mehr nicht. Das ist Schiff!!! Ich weiß.
Trotzdem hatte ich das Bedürfnis, laut zu schreien, dass dieses Mal alles anders werden würde. Dieses Mal würde ich es besser machen. Diese Menschen von der Amadea würde ich nicht verlieren. Vielleicht war ich ja nicht nur der Astor entwachsen, vielleicht war ich auch soweit gewachsen, dass ich in der Lage sein würde, diese wichtigen Menschen in meinem Leben zu halten. Das lag nicht nur an mir, klar. Aber zu einem großen Teil.
Danach ging ich mit Louisa über das Schiff und traf immer wieder Leute, die wir und die uns kannten. Die Astor hatte viele Stammgäste und die meisten erinnerten sich an uns. Kein Wunder, allein mit kleinem Kind war ich damals schon aus dem typischen Weltreisepassagierrahmen gefallen. Auf den verschiedenen Decks, in den Salons und Restaurants, kamen dann endlich auch ein paar Erinnerungen wieder. Ich ging vor zur Spitze des Schiffes, was schon damals mein Lieblinsplatz war, und konnte das alte Gefühl nicht mehr hervor holen. Nein. Das Schiff brachte nichts mehr bei mir zum Klingen. Wie eine alte Liebe, der man freundschaftlich gegenüber steht, die das Herz aber nicht mehr berührt. Wie war das nur möglich. Diese Erkenntnis erschreckte mich so extrem und mir war klar, ich würde noch einige Zeit brauchen, um das einordnen zu können. Die Amadea hatte einfach den Platz der Astor in meinem Herzen eingenommen. Die Menschen von damals waren den Menschen von heute gewichen. Die momentane Weltreise erschien schöner, als die letzte.
Der Abschied dieses Mal war für mich ohne jegliche Emotionen. Ehrlich gesagt, war es erst jetzt, zwei  Jahre später, ein wirklicher Abschied. Ich ging einfach, ohne das Bedürfnis, zurückblicken zu müssen. Ich fühlte mich wohl in der Gruppe der Leute, die mit mir zurück fuhren. Ich freute mich königlich, als wir wieder zur Amadea kamen und ich entspannte mich in meiner wunderbaren Balkonkabine auf Deck 10. "Ich bin so froh, dass wir wieder hier sind", sagte Louisa und umarmte mich. "Aber auf der Astor war es auch schön", meinte sie mit ernstem Blick.
Es war schön. Es war vorbei. Das hier war unser Platz. Hier sollten wir jetzt, genau zu diesem Zeitpunkt, sein. Es war alles richtig.

Mein Spruch des Tages: "Einen richtigen Abschied erkennt man daran, das er nicht mehr weh tut." Hans Noll
Anja Fließbach: Mittwoch, 18 April 2007, 12:51 Uhr