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27. Beitrag: "Achterbahn der Gefühle" (27. Januar)

Schon bei der letzten Weltreise hatte der alte Seemann und Sänger Hein Mück zu mir gesagt: "Anja, du bist zu weich für die Seefahrt." Kaum einer würde mich zu Hause mit dem Attribut "weich" beschreiben. Aber Hein hatte Recht. Gerade vier Wochen auf dem Schiff und ich bin schon wieder völlig "lost" im Strudel der Gefühle.
Wie soll ich das Schiffsleben nur beschreiben? Es geht auf und ab wie die Wellen. Allerdings Sturmwellen. Bis zu 12 Meter hoch, wie wir sie letztens hatten. Ganz weit hinauf und fast noch weiter hinunter. Im freien Fall. Dann geht es wieder hinauf, man fühlt sich frei wie der König der Welt. Man kann alles erreichen, spürt reines Glück, Freiheit, Leben und dann… Genau, mit Krachen in das Tal hinein.
Drei Wochen habe ich gebraucht, um anzukommen auf dem Schiff. Man lässt nach und nach die Dinge zu Hause los. Verpflichtungen, Arbeit, Stress. Man schlüpft wie eine Raupe aus der grauen Alltagshaut und entfaltet sich endlich zu dem, was man wirklich ist. Nur zieht so eine Häutung auch mit sich, dass man ein Stück weit seinen Schutz aufgibt. Wie soll man auch sonst fliegen, eingesponnen und verpuppt? Tja, und dann ist man dem Wind ausgesetzt und der ist bekanntlich auf See besonders stark.

Gestern war Party. Ich habe getanzt, ging von einem Tisch zum anderen, kannte die Leute. Einige sah man jeden Tag, einige waren zu Bekannten geworden, einige zu Freunden. Freundschaften können auf See schnell innig werden. Intensiv. Man fühlt sich Menschen nah. Na, zumindest ich. Zuhause habe ich gar nicht so viel Zeit für andere Menschen und hier trifft man sehr interessante Personen.
Conny und Manni aus Spanien zum Beispiel. Sie sind ausgewandert und besitzen jetzt ein Restaurant, das "La Cabanja" in Vinarosa. Ihre Geschichte rührt mich. Manni, der verheiratet war, wusste in einer Minute in einem Restaurant, gerade als Conny Anstalten macht mit einem anderen Mann zu verschwinden, was er wollte. Er sagte zu seiner damaligen Ehefrau und all seinen Freunden: "Ich liebe diese Frau, die gerade da raus gegangen ist." Er rannte ihr hinterher, zog sie von diesem Mann weg und änderte sein ganzes Leben in einer Minute. Nun sind die beiden schon seit elf Jahren glücklich zusammen. Eine von zig Lebensgeschichten, die mir die Passagiere und Mitarbeiter auf dem Schiff schon erzählt haben. Ich sauge alles auf wie ein Schwamm und staune, wie unglaublich kreativ das Schicksal ist. Jedes einzelne Leben würde Romanbände füllen. Unglaubliche Karrieren, Zick-Zack-Leben, Ortswechsel, Krankheiten und Liebesgeschichten. Manche absolvieren schon ihre 12. Weltreise. Manche sind alt und wurden von ihren Kindern verlassen. Oder sie haben nie Kinder bekommen und bedauern das jetzt. Gerade heute beim Mittag hat ein fremdes Ehepaar mir seine Geschichte erzählt über den Kampf um eigene Kinder. Jetzt sind sie über 70 und einsam. "Wenn wir Enkel hätten, wünschten wir sie uns so, wie Ihre Tochter ist", erklärte die Frau.

Es sind glückliche Menschen auf dem Schiff. Zufriedene Menschen. Enttäuschte Menschen und traurige. Manche sind frustriert, manche erfüllt. Und irgendwie eint alle die Gewissheit der Vergänglichkeit. "Die Zeit, wo ist sie hin?", meinte eine allein stehende ältere Dame beim Frisieren im Beautysalon und bewunderte meine Hochsteckfrisur, die mir Friseurin Sandra zauberte. Ein Hauch von Melancholie schwingt fast immer mit. Aber vielleicht interpretiere ich das auch hinein.
Nun, da sind die Passagiere (die übrigens in zwei Tagen schon fast alle wieder aussteigen werden). Tja, und dann ist da noch die Crew, die Besatzung, Staff oder was es da alles für Unterteilungen gibt. Nun muss ich beim Schreiben vorsichtig werden, weil ich mit den meisten noch ein paar Monate auf dem Schiff verbringen werde und die haben schließlich alle Internet hier. Also: Besonders schwierig  zu durchschauen finde ich das unsichtbare Netz. Wer ist mit wem in welcher Form verbandelt? Wer arbeitet für wen, wer ist für was verantwortlich oder wer ist mit wem liiert. Eine Falle an der anderen und manchmal fehlt mir in menschlichen Dingen das "richtige Händchen", die Fallen auszulassen, die mir geschäftlich immer erspart bleiben. Es kommt mir vor wie dieses Spiel im Fernsehen: Ein Spieler bekommt Kopfhörer und er muss etwas darstellen. Das Publikum weiß Bescheid, die Mitspieler wissen Bescheid, nur der Spieler nicht, den alle beobachten. Es ist wie ein Puzzlespiel und die meisten Teile, die dann passen, hauen mich um. Man sieht es ihnen einfach nicht an und oft verändert ein Teil das gesamte Bild. Ich sage schon immer meiner Tochter, wie sehr ich Puzzle hasse.

Je nach Puzzleteil verändert sich die Richtung, in die sich meine Gefühle bewegen. Dazu kommt außer den Passagieren und der Crew natürlich noch die Welt an sich. Es ist einfach unglaublich, wenn man an Deck steht, die passende Musik aus dem iPod auf den Ohren hat und entweder die Weiten des Ozeans erblickt, atemberaubende Sonnenunter- oder Aufgänge sieht und im Wechsel schneebedeckte Berge, Wüsten, Palmeninseln oder Weltmetropolen vor der Nase hat. Heute zum Beispiel stand ich im Regen an Deck. Es war windig und ich war allein (wer geht auch sonst im Regen raus). Das Schiff fuhr gerade aus den engen Kanälen der Chilenischen Fjorde aufs offene Meer hinaus. Es befreite sich förmlich, nahm Fahrt auf zu neuen Ufern und begann gleichzeitig zu schaukeln und zu wanken. Es hatte den Schutz der hohen Berge verlassen. Im Ohr hatte ich die Musik vom Musical "Der Glöckner von Notre Dame" (Noa als Esmeralda mit "Ave Maria Pai en") und im Auge? Tränen. Es war unglaublich schön.
Und so unglaublich schön ist diese ganze Reise, die wahrscheinlich gerade durch diese extremen Höhen und Tiefen erst zu dem besonderen Teil im Leben wird, was sie ist. Eben wie ein Puzzleteil, welches das gesamte Bild verändert..

Anja Fließbach: Samstag, 27 Januar 2007, 21:11 Uhr

Kommentare zum 27. Beitrag

liebe anja. du schreibst so schoen. durch deine berichte kommt es mir vor, als wuerde ich dich kennen. gern wuerde ich dich im wahren leben treffen. kannst du mir mal deine e-mail-adresse mailen? herzliche gruesse sendet cornelius

Kommentiert von: Cornelius T. | Sonntag, 28 Januar 2007, 8:41 Uhr

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Liebe Anja. Wie kann man Gefühle so stark empfinden und sie dann auch noch so gut beschreiben? Ich bin stark beeindruckt. Erinnere dich. Schon auf einen deiner letzten Texte hin hatte ich dich gewarnt. Besser ich schicke dir zur Erinnerung eine Kopie. Bleib wie du bist! Ein Freund

Kommentiert von: Manus | Sonntag, 28 Januar 2007, 8:54 Uhr

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Die Fotos passen perfekt zu den Worten. Kann ich die Bilder als Plakate bekommen? Natürlich zahle ich auch. Hast du eine Idee? Tolle Texte, tolle Bilder. S.

Kommentiert von: S. | Sonntag, 28 Januar 2007, 8:59 Uhr

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Hier die Kopie:
Liebe Anja. Ich weiß genau wovon du redest. So ein Schiff kann die emotionale Hölle sein. Was da menschlich abgeht, kann wirklich keiner von außen verstehen. Die Menschen verändern sich extrem und ich kann dir nur raten, dich gefühlsmäßig zurück zu halten. Keinem zu vertrauen, wäre übertrieben. Aber die Menschen auf Schiffen haben sich eine eigene Art angewöhnt. Sie sind offen, nett und manchmal auch, wie du es schreibst, herzlich. Aber sie schützen sich selbst. Oft jahrelang erprobt. Also gib gut auf dich Acht und lass dich nicht unterkriegen. Finde die wahren Freunde. Aber glaube nie, was du auf den ersten Blick zu erkennen glaubst. Dann wirst du nicht enttäuscht. Viel Glück Ein Freund

Kommentiert von: Manus | Sonntag, 28 Januar 2007, 9:03 Uhr

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Sehr geehrte Frau Fließbach.
Soeben habe ich Ihren Artikel gelesen. Gestatten Sie mir dazu ein paar Anmerkungen.
Ich bin selbst Kreuzfahrerin und kann Ihre Emotionen nicht nachvollziehen. Leider. Meine Erziehung basiert auf einem realistischen Weltbild. Hätte ich Ihren liebevollen Blick gehabt, wären die Eindrücke meiner Reisen nachhaltiger gewesen.
Aber lassen Sie mich noch etwas anmerken, was nicht unmittelbar mit der Seefahrt zu tun hat. Die Meinung des Herrn Manus kann ich nicht teilen. Man muss vertrauen können. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber ich bin viele Jahre älter als Sie und gebe Ihnen einen Rat. Wenn Ihnen Menschen wichtig sind oder werden, wie Sie es so nett beschreiben, sollten Sie um diese Freundschaften (oder ist es gar mehr?) kämpfen.
Zum Schluss noch etwas. Die chilenische Bergwelt kenne ich sehr gut und kann dort keine Dramatik finden. Es handelt sich um ein eintöniges Gebiet ohne Höhepunkte.
Entschuldigen Sie meine Offenheit.
Ich verbleibe mit herzlichen Grüßen
Ihre Emilie Nathnöger

Kommentiert von: enath | Sonntag, 28 Januar 2007, 10:11 Uhr

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he s.. druck dir die fotos aus und haenge sie auf. anja hat wichtigeres zu tun. cornelius

Kommentiert von: Cornelius T. | Sonntag, 28 Januar 2007, 11:32 Uhr

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he c.. Das kann Anja immer noch selbst entscheiden. S.

Kommentiert von: S. | Sonntag, 28 Januar 2007, 15:07 Uhr

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he s.. wie alt bist du denn? drei?

Kommentiert von: Cornelius T. | Sonntag, 28 Januar 2007, 17:39 Uhr

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Auf Cornelius gehe ich nicht mehr ein. Das ist mir zu dumm. Anja, ich habe mir im Internet dieses Lied von der Esmeralda gesucht. Es passt gut zu deinen Beschreibungen. Würde mich freuen, wenn du oft solche Tipps gibst. Dann kann man sich noch mehr in die Situation versetzen. Wegen den Plakaten. Sieh mal, was geht. S.

Kommentiert von: S. | Sonntag, 28 Januar 2007, 17:49 Uhr

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(Letzte Aktualisierung: 29.01.2007)