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14. Beitrag: "Stress in Rio" (10. Januar)

"Was machen Sie mit unseren Sachen?", rief ich über den Flur...
Zwei Kabinen-Stewardessen waren gerade dabei, unsere Utensilien aus dem Bad einzeln auf einen Wagen zu werfen. Louisas Katze Twyla sah mich ängstlich von einem Stapel meiner Bücher an, während eine Stewardess mit einem Stück Unterwäsche von mir wedelte.
"Wir räumen Ihre Kabine aus", sagte die Stewardess. Eigentlich sollte die Umzugsaktion erst 45 Minuten später beginnen und ich war extra schon vor Louisa und meiner Freundin Anke vom Frühstück aufgebrochen, um die restlichen Sachen einzupacken. Als ich nun in unsere Kabine 865 kam, waren schon die Betten abgezogen, lagen unsere Dinge durcheinander. "Eigentlich brauchen Sie gar nichts weiter einpacken", erklärte mir die Chefin der beiden, die dazu gekommen war. Ich hörte auf sie, doch das war ein Fehler. Wir sollten es am Nachmittag erfahren.
Louisa kam gerade vom Frühstück, als ihr "Wali" eine unsanfte Landung auf dem Wagen machte. "Mama, meine Tiere", sagte sie entsetzt. "Die bekommen einen schönen Platz in unserer neuen Kabine", erklärte ich Louisa und meine Tochter brach in Tränen aus. "Ich will nach Hause", schluchzte sie. Als ich sie sanft zum Schiffsausgang schob, wir waren mit André verabredet, öffnete ich die "Mütter-Trickkiste" ganz weit. "Unsere neue Kabine ist eine ganz besondere Kabine." Mein Kind blickte zu mir auf. "Es ist eine Gute-Nacht-Geschichten-Vorlese-Kabine. Die einzige auf dem Schiff. Hast du ein Glück, dass ausgerechnet du darin wohnen darfst." Die Tränen stoppten sofort und es folgte die Bemerkung: "Aber jeden Abend, Mama. Und nur lange Geschichten."

Auf dem Programm in Rio de Janeiro, wo wir immer noch waren, stand heute der Zuckerhut. "Eigentlich heißt es übersetzt Zuckerbrot", erklärte André meiner Tochter. Sie lachten. Louisa hatte den jungen Studenten schon ins Herz geschlossen. "Als die Portugiesen das erste Mal hierher kamen, dachten sie, der Felsen sieht aus wie ein Zuckerbrot." Warum wir das mit Zuckerhut übersetzten, wusste selbst André nicht. Auf den 394m hohen Granitblock kommt man in zwei Etappen mit einer Drahtseilbahn. Es war ein schöner Tag und das typische Wölkchen, das den Berg normalerweise krönt, war verschwunden.
Bei der anschließenden Fahrt durch die Stadt zeigte uns André die anderen Sehenswürdigkeiten wie die Kirche des Benediktinerklosters, deren vergoldete Wände prunkvoll und ein wenig erdrückend wirkten. Er zeigte uns danach die neue Kathedrale und erzählte, dass die Evangelen den Katholiken gerade viel Konkurrenz machen in Brasilien. "Sie haben Kinos gekauft und inszenieren ihre Gottesdienste fast wie spektakuläre Musicals."
Dann fuhren wir zum Paco Imperial, das 1743 erbaute Gebäude, worin die königliche Familie aus Portugal nach ihrer Flucht vor Napoleon gelebt hatte. "Als die Königin Brasilien wieder verlassen konnte, hat sie ihre Schuhe weggeworfen und gesagt, sie wolle nicht mal ein Staubkorn aus diesem schrecklichen Land mitnehmen", erzählte André und meine Tochter schaute ihn fasziniert an.

Zum Essen nahm er uns mit in eine einfache Pizzeria im Stadtteil Botafogo. Die Gegend sah ärmlich aus, obwohl hier die Mittelschicht von Rio wohnte. Auch in diesem einfachen Restaurant gab es einen Sicherheitsmann, der bewaffnet gegenüber der Terrasse stand und das Geschehen beobachtete. "Man gewöhnt sich an die Gefahr", erklärte André. Er selbst sei erst ein Mal überfallen worden, sein Vater auch. "Wir gehen einfach nicht in die Gegenden, wo es gefährlich ist", erklärte er und es war offensichtlich, dass er uns beruhigen wollte. Wir waren trotzdem froh, als wir wieder im Auto saßen und Richtung Corcovado fuhren. Bei unserem letzten Besuch, hatten wir den Christus nur im Nebel gesehen und kaum erkennen können. Heute freuten sich die vielen Besucher aus aller Welt über Sonnenschein, als sie die Strecke mit der Zahnradbahn, dem Aufzug und der Rolltreppe hinauf fuhren. Es war lustig, dass sich wie beim letzten Mal viele der Touristen mit ausgebreiteten Armen vorm Chistus fotografieren ließen. Die gleiche Geste, mit der die große Figur scheinbar die Stadt segnete. André verriet uns, dass die Leute von Rio maximal einmal im Leben selbst den Zuckerhut oder den Corcovado erklimmen, manche nie.

Der Student aus Rio brachte uns zum Schiff zurück. Er selbst hatte am Abend eine Feier mit Freunden, alles Weiße, wie er sagte. Die Trennung zwischen Schwarzen und Weißen wurde hier noch oft bewusst praktiziert. "Aber ich haben nichts gegen Schwarze", erklärte er schnell und beteuerte, dass an seiner Universität auch dunkelhäutige Studenten lernten. "Es gibt nur extra Plätze für die Studenten, die aus den staatlichen Schulen kommen. Das sind eben oft die Schwarzen." Wir verfielen in eine Diskussion und Louisa hört aufmerksam zu. Letztlich war sie diejenige, die den kleinen Streit beendete: "Es gibt weiße Leute, die nett sind und manche sind nicht nett und bei den schwarzen Menschen genauso. Stimmt´s Mama?" Wir lachten über die weise 6-Jährige und verabredeten uns für den nächsten Tag.

Das Lachen verging uns erst, als wie wieder auf dem Schiff waren. Neue Kabine. 755. Wir blieben sprachlos in der Tür stehen. Was da vor uns lag, war ein Schlachtfeld. Koffer, Rucksäcke und Beutel lagen durcheinander. Unsere T-Shirts und Pullover waren in Müllsäcke gestopft, die Schuhe lagen kreuz und quer über die anderen Stücke verteilt. Chaos. Ich hatte gelernt, in Krisensituationen nicht zu hadern, sondern schnell zu handeln. Also schickte ich Louisa mit ihrem "Wali" in die Badewanne noch bevor sie wieder mit Weinen beginnen konnte. Dann rief ich den Kabinenservice und ließ alles aus der Kabine entfernen, was wir nicht unbedingt brauchten: Tisch, Stuhl. Eiskühler, Gläser. Als ich die Schränke öffnete, um die T-Shirts einzuräumen, waren die Schränke mit unseren Kleidern und Jacken bereits voll. Plan B: Alles umfunktionieren, was irgendwie Stauraum geben konnte. Ich tauschte dicke Bügel gegen dünne, ließ einige Dinge im Koffer, schob Plastikkisten mit Louisas Spielzeug unters Bett und in der Bücherablage stapelte ich Kleidung. Die Räumaktion dauerte trotzdem bis zum späten Abend und ich war ziemlich sauer über die Art und Weise des Umzugs. Die Kabine selbst war nicht so schlecht. Hell, freundlich, zwar ohne Balkon, dafür mit Badewanne und, hurra, das Internet funktionierte auch wieder. Na, alles halb so schlimm.

Autorin: Anja K. Fließbach
(Geschrieben am Mittwoch, dem 10. Januar 2007, 21:55 Uhr)

Kommentare zum 14. Beitrag

Zwei Anmerkungen zu Brasilien im Allgemeinen, obwohl es natürlich große regionale Unterschiede gibt, es ist ja schließlich auch ein riesiges Land. Nach drei Jahren gelebten Lebens dort habe ich höchst selten "Rassismus" erlebt, eher eine typische Klassengesellschaft, wobei oberflächlich, wie André eben schon anmerkte, oft davon ausgegangen wird, dass die "Dunkleren" eher weniger Geld haben. Allerdings habe ich auch superreiche "Morrenos" und "Pretos" erlebt und bitterarme blonde und blauäugige Menschen - und da war keine Spur von Rassismus im Umfeld zu erkennen - in Brasilien ist ganz grundsätzlich alles eine Frage des Geldes, noch viel mehr als wir uns das hier vorstellen können.
"Ärmlich aussehende Viertel", obwohl dort Mittelstand lebt. Nun, man kann auch in einem reichen Viertel wohnen und vor der Haustür überfallen werden. Anders als in Deutschland darf man - meiner Meinung nach - hier nicht zu oft nach den Äußerlichkeiten gehen. Oft wohnen in den schicken Häusern auch die größten Gauner... und in den für uns "ärmlichen Vierteln" ganz normale Menschen, grundsolide und bürgerliche, mit Berufen, die hier oft für ein schickes Reihenhaus und ein oder zwei hübsche Autos sorgen.
Und ist es nicht bemerkenswert, wie lebensfroh die Menschen doch sind, obwohl sie so viele Unzulänglichkeiten hinnehmen müssen???

Kommentiert von: Steffi | Donnerstag, 11 Januar 2007, 12:20 Uhr

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Hallo Anja,
Den Titel "Stress in Rio" finde ich etwas irrefuehrend - ich dachte es handelt sich um gefaehrliche Situationen, die euch in der Stadt passiert sind oder aehnliches.
Aber das mit dem Kabinenumzug - ok, sicher ist das nervig. Aber come on, das als "Krisensituation"; zu bezeichnen? Naja, du sagst ja selbst - es gibt Schlimmeres oder?

Kommentiert von: Emma | Donnerstag, 11 Januar 2007, 13:42 Uhr

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Wahrscheinlich habt ihr keine Kinder. Die brauchen einfach feste Groessen im Leben. Dinge, an denen sie sich festhalten und orientieren koennen. Da ist so ein Umzug schon eine neue Herausforderung fuer ein kleines Kind. Ich frage mich allerdings, wie Louisa diese ganze Weltreise verkraften wird.

Kommentiert von: C. | Sonntag, 14 Januar 2007, 15:56 Uhr

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(Letzte Aktualisierung: 15.01.2007)