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112. Beitrag: "Chaos" (5. Mai)

Während der ganzen Weltreise habe ich mich gefragt, wie es mir wohl danach gehen würde. Ich tippte auf traurig, wehmütig und sentimental oder euphorisch, glücklich und zufrieden. Nun, die Lösung ist: Durcheinander, unkonzentriert und auf eine bestimmte Art verloren...
Planlos, ziellos, desorientiert. Noch nicht ganz weg vom Schiff, noch nicht ganz zu Hause angekommen. Irgendwie in der Schwebe. Es ist gar nicht so, dass ich unbedingt gleich wieder auf das Schiff möchte, aber hier will ich eigentlich auch nicht sein. Irgendwo hinzufahren bin ich zu müde und zum Plänemachen fehlt mir die Kraft. Ich hänge in der Schwebe, wie ein Flugzeug, dass Warteschleifen über dem Landeplatz fliegt. Nur, dass der Pilot noch nicht sicher ist, ob es sich um den richtigen Zielflughafen handelt. Wie ein Raubvogel, der über seiner Beute kreist und sich nicht auf die Erde und auf das Tier hinab stürzt, weil er nicht weiß, ob er überhaupt Hunger hat und ob er immer noch gern Mäuse oder inzwischen lieber Kaninchen mag oder lieber etwas ganz Neues ausprobieren möchte und Vegetarier wird. So bringe ich es zum Beispiel nicht übers Herz, meine Koffer in den Keller zu schaffen. Sie stehen im Flur, bereit für den Aufbruch. Für irgendeinen Aufbruch. Umzug? (Hallo ihr Schiffsleute, nicht lachen!) Eine andere Stadt? Ein anderer Job? Ein anderes Leben? Meine Wohnung wirkt sehr fremd und bis heute habe ich noch nicht hier übernachtet (bei Mutti geschlafen). Ich traue mich nicht. Als ob ich meinen Kopf einmal auf das Kissen gelegt, nicht mehr hier wegbekommen würde. So lange wir bei Oma wohnen, sind wir noch irgendwie im Urlaub.Irgendetwas will ich tun. Etwas Großes. Gewaltiges. Etwas, was das Meer und eine Weltreise ersetzt. Aber ich weiß, dass sich diese Lücke schwer füllen lässt. Auf eine Taktik bin ich schon gekommen: Ich stelle mir vor, ich bin wie meine Crew - Freunde auf Urlaub zu Hause. Und schon, wie mit einem Zauberstab verwandelt, gefällt es mir hier gut.
Louisa ist am ersten Tag laut lachend in den Kindergarten gerannt. Erzieherin Katrin hat am Nachmittag erzählt, dass meine Tochter gleich die Gruppenführung übernommen hätte. "Wie selbstsicher sie geworden ist", staunte die Pädagogin und sagte, dass ihrer Meinung nach alle Kinder einmal auf Weltreise gehen sollten. Louisa war glücklich, wieder hier zu sein und wenn sie an meiner Hand nach Hause hüpfte, wünschte ich mir ihre Leichtigkeit. "Mama, ich vermisse die Amadea und meine Freunde", sagte sie zwar sehr oft und beim Koffer und Geschenke auspacken hatte es auch ein paar Tränen gegeben,  aber sie genoss den Augenblick, wo auch immer sie war. Wenn sie ihren neuen Lieblingstiger, ihre Barbie und den neuen Cinderella - Rucksack zeigte und erzählte, von wem auf der Amadea sie das geschenkt bekommen hatte, seufzte sie kurz, wurde für einen kleinen Augenblick traurig und lachte dann vor Freude, weil alle die neuen Dinge bestaunten.
Ich dagegen staunte maximal über den Unterschied zwischen meinem Kind und mir. Zwar war ich gleich am Donnerstag in der Redaktion gewesen, hatte an den zwei Arbeitstagen die Keypositions (Hallo Rainer, schau mal, das gibt es doch nicht nur auf dem Schiff...) meiner Redaktionen getroffen und war eigentlich schon wieder voll da. Aber nur körperlich - nicht mit dem Herz und meinem Geist. Beides befand sich noch in der Warteschleife.
Für meine Mitarbeiter war es eine gute Zeit, mir über die - zum Glück wenigen - Krisen zu berichten. Es war, als hätte ich wie bei einem aufgeladenen Akku ein bis zum Strich angefülltes Toleranz- und Gelassenheitspotential. Wie bei einer Batterieanzeige sank es allerdings bei jedem negativen Erlebnis immer minimal nach unten. Mal sehen, wie lange meine Ruhe anhielt.
Die Ruhe führte auch eine gewisse geistige Abwesenheit mit sich. Manchmal stand ich wie betäubt in meiner Wohnung und wusste nicht, was mein nächster Schritt sein sollte. Ich sortierte die Berge von Post der letzten Monate hin und her und wieder hin und hatte kein System, die Anfragen, Rechnungen und aufkommenden Probleme anzupacken. Ehrlich gesagt, ich hatte auch keine Lust.
Auch nicht zu Terminen. Gerade jetzt lief ein wichtiges Golfturnier bei uns in Possendorf. Der Club war für meine Magazine wichtig, der Turnierausrichter, Juwelier Leicht, war wichtig und die Teilnehmer waren wichtig. Trotzdem. Ich war noch nicht so weit, ich konnte nicht hingehen und ja, verflixt, ich wollte auch nicht. Heute Abend war ein weiterer wichtiger Termin für Dresden. Der Puro Beach Club wurde eröffnet, die wichtigste Partylocation des Sommers. Auch hier waren die für uns relevanten Leute geladen. Aber... Zum Glück hatte ich meine Art Direktorin Anke, die mit Fotograf Daniel diese Termine übernahm. Schließlich war es in den letzten Monaten auch ohne mich gegangen.
Und noch ein Punkt bedeutete Chaos für mich: Die Zeit. In meiner Wohnung, in der Redaktion, beim Italiener an der Ecke, beim Treffen mit Bekannten wirkte es auf mich, als wäre ich nie weg gewesen. Als knüpfte ich wieder da an, wo ich aufgehört hatte. Als hätte man die viereinhalb Monate der Weltreise aus meiner Lebenszeit heraus geschnitten und separiert auf einen anderen Stapel gepackt. Hier schien mir die "Amadea" und mein Leben auf dem Schiff so weit weg, als hätte ich einen Film gesehen oder ein Buch gelesen. Obwohl ich erst vor vier Tagen ausgestiegen bin. Oder SCHON vor vier Tagen? Als ich heute von meiner Rückreise berichtete, sagte ich immer: "Gestern in Venedig..." oder "Gestern Abend in München..." Dabei lag all das schon vier Tage zurück. Doch vier Tage im normalen Leben wirkten wie ein Tag auf dem Schiff. Es passierte viel weniger und wenn man schlief, bewegte man sich auch nicht von einem Land zum anderen, sondern war am Morgen noch genau da, wo man sich am Abend hingelegt hatte. Im direkten Vergleich wirkte es wie ein Stillstand. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte.
Und als mir heute ein Freund seine Uhr zeigte, die immer noch lief seit ich sie ihm Weihnachten geschenkt hatte, sah ich den Clou dahinter nicht. "Warum auch soll sie nach vier Monaten nicht mehr laufen", sagte ich und er: "Hallo? Da liegt noch ein Weihnachten dazwischen." Weihnachten waren wir auf dem Schiff gewesen. Auch zu Ostern, zum Fasching und zum Valentinstag. In einer anderen Welt. In einem anderen Leben. Zumindest hätte man dann hier mal für uns die Zeit anhalten können. Wenigstens...
Louisas Spruch des Tages (wörtlich): "Mama, ist es nicht verrückt: Da fährt man unbeschwert auf das Schiff mit nichts als ein bisschen Gepäck und kommt zurück mit einem Haufen Freunde."

Musiktipp zur Stimmung (Sorry!): Julio Iglesias, "Mit Tränen in den Augen ist man blind"
Morgen garantiert: Popandar/Indien

Anja Fließbach: Samstag, 5 Mai 2007, 23:24 Uhr