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102. Beitrag: "Die Stimme des Meeres" (24. April)
"Die Stimme des Meeres ist wie ein Ruf, ein gewaltiger Schrei. Das Meer schrie und schrie. Es rief mir zu: Hast du Stroh im Kopf? Das Leben ist gewaltig. Kannst du das nicht begreifen? Gewaltig! Das hatte ich noch niemals bedacht. In meinem Kopf gab es eine Revolution. Und da habe ich beschlossen, mein Leben zu ändern. Neu anzufangen. Ändere dein Leben! Fang neu an!" So heißt es in einer meiner Lieblingspassagen in der "Legende vom Ozeanpianist". Heute folgt für euch mein persönlicher Teil 2...
Was uns alle eint, die wir hier auf dem Schiff sind: Wir haben es nicht so mit dem "normalen Leben". Wir sind ein bisschen anders, sonst wären wir nicht hier. Zwei, drei Wochen auf See sind ein Urlaub, den alle machen können und sollten. Aber wer länger als einen Monat freiwillig auf See ist, der ist - anders. Man könnte auch sagen, der hat ein Problem. Spätestens wenn er wieder an Land ist.
Zitat: "Die Stimme des Meeres. Wie ein eindringlicher Ruf, der dir sagt, dass das Leben gewaltig ist. Erst wenn du diese Stimme vernommen hast, kannst du es begreifen. Ginge ich von Bord und lebte an Land für ein paar Jahre, wäre ich wie jeder Mensch. Wie alle anderen und wohlmöglich eines Tages komme ich an die Küste, sehe vor mir den Ozean und höre seinen Ruf."
Alles auf dieser Reise ist für mich großartig und mit meinen Beschreibungen war ich oft sehr überschwänglich und habe für Leute an Land sicher manchmal scheinbar übertrieben. Habe ich aber nicht. Alles hier auf dem Meer, auf dem Schiff, auf der Weltreise ist gewaltig, überdimensional, losgelöst, mit anderen Maßstäben und damit anders zu messen. Der Freund des Ozeanpianisten bringt es auf den Punkt: "Spiel für die Menschen an Land. Nimm dir eine nette Frau, habe Kinder. Und all dieses Dinge an Land, die nicht gewaltig sind, aber der Mühe wert."
Was einigen von uns an Bord fehlt ist das Einsehen, die Erkenntnis oder der Glaube daran, dass es der Mühe wert sein könnte. Mir fehlt das auch. Ich bin ein Fan des Besonderen, des Nachhaltigen, der Extreme, des Gewaltigen. Soll ich wirklich ein "normales" Leben führen mit morgens zur Arbeit, nachmittags heim, nach dem Abendbrot die "Tagesschau" und danach beim "Tatort" bügeln? Das Bügeln ist für mich ein Synonym für ein Leben, wie ich es nicht führen möchte. Sonntags am frühen Abend hat meine Mutti früher immer gebügelt und mein Vati hat Fußball oder die Nachrichten geschaut. Ich erinnere mich genau an den Geruch der warmen, feuchten Wäsche auf dem Bügelbrett und an die Geräuschkulisse des Fernsehers. Dieses Szenario hieß für mich immer: Gleich ins Bett und danach der verhasste Montagmorgen mit sechs Uhr aufstehen, in Dunkelheit und Kälte zur Straßenbahn rennen, dann bei grellem Neonlicht in der Schule stundenlang scheinbar sinnlos herumsitzen mit einem Gefühl der Machtlosigkeit, des Sichfügenmüssens und der Ungerechtigkeit, die einige Lehrer nicht ablegen können. Als ich mein Abi in der Tasche hatte, wollte ich niemals mehr früh aufstehen müssen und als erstes ein Wort mit "Sch" sagen, das ich meiner Tochter verbiete. Morgens aufstehen und sich wünschen, der Tag wäre schon vorbei und es sei schon abends? Schrecklich. Was für eine Verschwendung von Lebenszeit. Im Ozeanpianisten heißt es dazu:
"Das Ganze noch mal von vorn. Manchmal bleibt einem einfach keine andere Wahl. Das Ganze noch mal von Anfang an." Wenn ein Leben anfängt oben genannte Züge anzunehmen, sollte man es schnell ändern, denke ich. Danach habe ich immer versucht zu handeln und hoffe trotzdem, dass es einen Platz, einen Mann und eine Familie gibt, bei der man bleiben kann und wo sich dieses statische Gefühl trotzdem nicht einstellt.
"Weißt du was ich denke? Der wirkliche Grund, warum du vom Schiff willst, ist dieses Mädchen. Es ist immer ein Mädchen." Nun, bei mir ist es meine schulpflichtige Tochter, dass ich vom Schiff muss. Es könnte aber sicher nur ein Mann sein, dass ich vom Schiff WILL. Und mit Schiff meine ich nicht nur Schiff, sondern die damit verbundene Lebenseinstellung.
Die Zeit auf der Amadea und auf dieser Weltreise verstreicht unaufhaltsam. Logisch. Und bald ist der von mir schon immer gehasste Abschied ein Abschied in einer neuen Dimension. Ich gehe. Die meisten von meinen Freunden und Bekannten gehen auch. Wenige bleiben. Aber mit ein oder zwei Ausnahmen trennen sich an einem Tag alle und verstreuen sich von Venedig aus sternenförmig in die ganze Welt. Würde man die Wege der einzelnen nachzeichnen, würde es aussehen, wie das Streckennetz der Lufthansa.
"Wie oft habe ich erlebt, dass Menschen sich am Hafen verabschiedeten ohne dass es sie weiter berührt hätte. Als ich mich von 1900 verabschiedete, war das wie ein Schlag in die Magengrube. Wir lachten und sagten immer wieder: ´Bis bald!´ Aber in unserem Innersten wussten wir, dass wir uns wahrscheinlich nie wieder sehen würden."
Das ist für mich das schlimmste und ich klammer mich hier an der Hoffnung fest, es doch anders zu machen als alle anderen, anders als ich bis jetzt selbst.
Und außer dem Abschied von den Freunden ist beim Ende dieser Weltreise dieses Gefühl da, als wäre ich wieder eine Schülerin an einem Montagmorgen. Man wacht auf und sagt ein Wort, das man nicht sagen sollte. Beim Finale in der "Legende vom Ozeanpianisten" begründet 1900, warum er nicht von Bord gehen will:
"Nicht was ich sah, hielt mich zurück, Max. Sondern das, was ich nicht sah. Kannst du das verstehen? Das was ich nicht sah. In dieser gewaltigen Stadt gab es alle bloß kein Ende. Weit und breit kein Ende. Denk an ein Piano. Die Klaviatur fängt an und endet. Sie hat 88 Tasten und niemand kann dir was anderes erzählen. Sie ist nicht unendlich. Du bist unendlich. Und auf diesen Tasten kannst du Musik machen und die ist unendlich. Das gefällt mir. Damit kann ich umgehen. Da stehst du nun auf dieser Gangway und vor dir entrollt sich eine Klaviatur mit Millionen von Tasten. Millionen und Abermillionen Tasten und du siehst kein Ende und das ist die Wahrheit, Max, sie nehmen kein Ende. Tasten bis ins Unendliche. Auf einer unbegrenzten Tastatur, die bis ins Unendliche führt, kannst du keine Musik machen. Du sitzt auf der falschen Bank. Das ist Gottes Piano. Herrjeh hast du die Straßen gesehen? Nur die Straßen. Es gibt Tausende davon. Wie findet man sich da zurecht. Wie soll man sich da entscheiden. Für eine Frau. Für ein Haus. Für ein Stück Land, das du dein eigen nennen, eine Landschaft, die du betrachten möchtest, für eine Art zu sterben. Die ganze Welt drückt dich zu Boden."
Genau das ist es, das ist die beste Beschreibung, die ich jemals gehört habe. Weiter:
"Sag Max, kann einem von diesem Gedanken allein nicht schon Angst und Bange werden. Von diesem Übermaß, das da auf dich einstürzt? Hier auf diesem Schiff bin ich geboren. Und die Welt zog an mir vorüber. Nie mehr als nur 2000 Menschen zu einer Zeit. Auch hier gab es Wünsche, aber sie bewegten sich nur zwischen Bug und Heck. Du suchtest dein Glück auf einer Klaviatur, die nicht unendlich ist. Ich lernte das Leben auf diese Weise kennen. Land? Land ist ein Schiff zu groß für mich. Eine Frau unerreichbar, eine Reise zu weit, ein Duft viel zu stark, eine Musik, die ich nicht spielen kann. Hier weggehen kann ich nicht. Vergib mir mein Freund, aber ich kann nicht von hier fort."
Natürlich können wir von hier fort. Wir wollen nicht, aber wir können. Natürlich können wir auf der großen Klaviatur des Lebens spielen. Wir wollen nicht, aber wir können. Natürlich können wir auch unser Glück "da draußen" an Land suchen. Wir wollen nicht, aber wir können. Diese Reise ist bald zu Ende. Punkt.
"Man ist niemals ganz am Ende, solange man eine gute Geschichte hat und jemanden, der einem zuhört."
Insofern wird mein blog wegen der zeitlichen Verschiebung auch noch nach dem 1. Mai einige Zeit weiter laufen und ich werde euch die Reise chronologisch weiter erzählen. Man lebt auf so einer Weltreise viel schneller, als man schreiben kann. Noch eine Woche kommen die Berichte ganz normal vom Schiff.
Anja Fließbach: Dienstag, 24 April 2007, 8:22 Uhr