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Die Welt hat Hunger Disy sprach mit Ralf Südhoff

Nachhaltigkeit ist ein entscheidender Faktor gegen den Hunger in der Welt und wird für eine bessere Zukunft immer wichtiger. Welche Schritte die Hilfsorganisationen bereits in diese Richtung unternehmen und was die Politik dazu beitragen kann, beschreibt Ralf Südhoff, Leiter des UN World Food Programms (WFP), im folgenden Disy-Interview. 

 

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen kämpft seit 54 Jahren gegen den Hunger. Hat sich das Programm in den Jahren verändert?
Südhoff:
Ja, in der Tat. Früher kannte man noch das typische Care-Paket aus der Nachkriegszeit und nannte es Nahrungsmittelhilfe. Heute funktioniert die Ernährungshilfe anders. Das Entscheidende für unsere Arbeit ist der Einsatz eines flexiblen „Werkzeugkastens“, der eine Reihe möglicher Hilfsmittel anbietet, die mit der reinen Essensübergabe nichts mehr wirklich gemein haben. Die alte Nahrungsmittelhilfe wurde daraus gespeist, dass es in den 60er Jahren große Nahrungsüberschüsse im Norden der Länder gab und der Wunsch aufkam, mit diesem Überangebot etwas Sinnvolles im Süden zu tun. Heute ist die Zeit der Nahrungsmittelüberschüsse vorbei. Bald werden wir weltweit bis zu 50 Prozent mehr Nahrung benötigen, um alle Menschen versorgen zu können, und müssen daher neue Formen der Unterstützung einsetzen. In Syrien verwenden wir Geldkarten, die mit einem bestimmten Betrag aufgeladen sind. In afrikanischen Staaten ist es häufig die Förderung von Kleinbauern, die zwar genug ernten, aber nicht davon leben können. Über die Hälfte der Ernte verdirbt einfach, da den Bauern die Lagermöglichkeiten fehlen. Es sind genau solche Dinge, die über die reine Essensübergabe hinausgehen. 

 

Hat sich die Anzahl an hungernden Menschen weltweit, trotz an- steigender Weltbevölkerung, in den letzten Jahrzehnten verringert?
Südhoff:
Ja, in den 60er Jahren war es noch jeder Dritte, heute ist es nur jeder Neunte. In diesem Sinne ist die Wahrnehmung, der Hunger würde immer größer und die Lage schlimmer werden, tatsächlich eine falsche. Insgesamt kann man heute über zwei Milliarden Menschen mehr ernähren als vor 25 Jahren und obwohl die Weltbevölkerung zugenommen hat, ist es gelungen, die Menschen zu versorgen. Die Zahl der Hungernden konnte seit 1990 sogar von circa einer Milliarde auf 800.000 gesenkt werden. 

 

„Man bezeichnet es auch als Digital-Food. Es ist eine reine digitale Übertragung von Bargeld auf Geldkarten, mit denen Menschen ganz flexibel in den Ländern einkaufen können. Dies gelingt in Krisen, wo Märkte noch funktionieren.“

 

Wenn in Zukunft mehr Nahrungsmittel benötigt werden, um alle Menschen zu ernähren, schafft man es dann dennoch, den Hunger weiter einzudämmen?
Südhoff:
Es ist eine Herausforderung, weil sich die Lage ändert. Wir hatten in der Vergangenheit ein reines Zugangs- und Verteilungsproblem und es gab weltweit einen Überfluss an Nahrung. Wir mussten sogar in Europa Essen entsorgen. Es gab zu viele Überschüsse und gleichzeitig nicht genügend Kaufkraft. In Zukunft wird es aber, neben der Verteilungsproblematik, auch eine Produktionsproblematik geben und die Lebensmittelnachfrage wird aus unterschiedlichen Gründen weiter ansteigen. Wachsender Wohlstand in den Schwellenländern, Biokraftstoffe, Bioenergie, massiver Fleischkonsum und vieles mehr sind nur einige der Faktoren. Mittelfristig gesehen wird die Produktion von genügend Nahrungsmitteln die Herausforderung sein und gerade die Menschen in den Entwicklungsländern müssen es schaffen, selbst ausreichend Nahrungsmittel zu produzieren. 

 

Die UNO hat die „Zero-Hunger-Challenge“ vorgestellt, den welt- weiten Sieg über den Welthunger in den kommenden 15 Jahren. Sind denn 15 Jahre wirklich realistisch?
Südhoff:
Aus unserer Sicht ist es realistisch, wenn es den politischen Willen dafür gibt, vor allem in den Regionen, die am stärksten vom Hunger betroffen sind. Wenn man sich die Millenniums-Ziele anschaut, ist es zum Beispiel vor allem gelungen, 200 Millionen Menschen vom Hunger zu befreien, weil sich die einheimischen Regierungen diesen Zielen verschrieben haben. Sie haben in die eigene Landwirtschaft, die ländlichen Räume und die eigene Bevölkerung investiert. Eine Welt ohne Hunger ist also möglich, wenn die Bereitschaft da ist und wir unsere Hilfe anpassen, um so einen Fortschritt fördern zu können. Aus meiner Sicht stellen weniger die Länder, in denen eine halbwegs normale, stabile Situation herrscht, eine Herausforderung dar, sondern die Folgen des Klimawandels und der zunehmenden Konflikte. Die größten Hungerkatastrophen sehen wir zurzeit in Großkonflikten, wie in Syrien, im Jemen und Südsudan. 

 

Die UNO unterstützt seit Jahren die Menschen in Syrien. Musste es in dem Krisengebiet denn erst soweit kommen?
Südhoff:
Die UNO benötigt aktuell 26 Millionen Dollar pro Woche, um allen Syrern und syrischen Flüchtlingen in Not helfen zu können. In den ersten Jahren des Konfliktes wurde unsere Hilfe größtenteils finanziert. Dann trifft häufig eine gewisse Müdigkeit ein, immer wieder große Beträge für den selben Konflikt bereitzustellen. Allerdings ist hier gerade Deutschland die positive Ausnahme, das uns dieses Jahr mit einer sehr großzügigen Spende von 570 Millionen Euro ermöglicht, Millionen Flüchtlinge zu unterstützen und ihnen eine Chance gibt, in der Region auch zu bleiben. Schwierig bleibt es zugleich bei solch langandauernden Konflikten im Vergleich zu einer Naturkatastrophe für private Spenden: Hilfsorganisationen haben zumeist nur sehr geringe Chancen, private Spender für Opfer von Konflikten im arabischen Raum zu gewinnen. 

 

Ist die Erhöhung des Budgets des Welternährungsprogramms eine Folge der Syrien-Problematik?
Südhoff:
Man hat einen Zusammenhang zwischen der dauerhaft schwierigen und gewalttätigen Situation in Syrien und unserer gekürzten existenziellen Unterstützung der Menschen dort feststellen können. Als wir 2015 die Hilfe um bis zu 50 Prozent unter das Existenzminimum senken mussten, begann bald darauf die große Flüchtlingswelle, die wir jetzt hautnah miterleben. 

 

„Unsere Aufgabe ist zweifellos, unser Leben und den Konsum wesentlich nachhaltiger zu gestalten.“ 

 

Welche Hilfsprogramme werden denn in Syrien eingesetzt? 

Südhoff: Der Einsatz von Geld-Karten in Syrien und deren Nachbarländern ist eine große Innovation. Man bezeichnet es auch als „Digital-Food“. Es ist eine rein digitale Übertragung von Bargeld auf Geldkarten, mit denen Menschen ganz flexibel in den Ländern ein- kaufen können. Dies gelingt in Krisen, wo Märkte noch funktionieren So konnten wir schon eine Milliarde Dollar in die Nachbarstaaten rund um Syrien investieren, wo die Anzahl an Flüchtlingen auch als eine Last empfunden wird – im Libanon kommen auf jeden vierten Einwohner ein Flüchtling. Diese Art von Unterstützung ist wiederum anders, als das „Cash-for-Work-Programm“, welches wir vorwiegend in West-Afrika einsetzen, wo wir nach ähnlichem System Bargeldzahlungen für gemeinnützige Arbeit tätigen. Das Ziel dieses Programms ist es, Krisenhilfe in Form von Cash zu nutzen, um künftige Krisen zu vermeiden, durch Aufbau von Bewässerungssystemen gegen Dürren, Dämmen gegen Überschwemmungen usw. Die größte Aufgabe besteht deshalb darin, derartige Programme und die Nothilfe noch mehr und wann immer möglich zu verknüpfen. 

 

Wie stehen Sie zu den Economic Partnership Agreements, welche die EU vor einiger Zeit mit einigen afrikanischen Ländern abgeschlossen hatte? Sind solche Verträge für die Arbeit des Welternährungsprogrammes nicht kontraproduktiv?

Südhoff: Ich bin kein Experte, was Handelsabkommen betrifft. Aber grundsätzlich teile ich die Sichtweise der Weltbank, die einst einräumte, man habe viele Länder zu stark in Abhängigkeiten im Rahmen einer internationalen Arbeitsteilung gezwungen, insbesondere seit den 1980er Jahren. Dies führte zu Abhängigkeiten, weil Grundnahrungsmittel immer mehr importiert werden mussten, zu steigenden Preisen, während ihre klassischen Exportgüter wie Bananen, Kaffee, Kakao immer weniger wert waren. 

 

„Zwei Tage in der Woche auf Fleisch zu verzichten, würde bereits allen Beteiligten weltweit helfen.“

 

Gibt es für das Welternährungsprogramm die Möglichkeit von Mitspracherechten bei solchen Verhandlungen?
Südhoff:
Nein, wir sind eine operative Hilfsorganisation. Unsere Schwesterorganisation FAO, zuständig für Ernährung und Landwirtschaft, besitzt das nötige Know-how und hat einen starken Policy- und Beratungshintergrund. 

 

Große Industrieländer wie China investieren sehr viel Geld in afrikanische Entwicklungsländer. Was halten Sie von dieser Entwicklung?
Südhoff:
Ich glaube, dass hier unterschiedlich bewertet werden muss. Es gibt viele afrikanische Länder, in denen dank chinesischer Hilfe schlagartig eine Grundinfrastruktur geschaffen wurde. Es gibt jetzt teils funktionierende, gut asphaltierte Straßen, die auch der Schlüssel dafür sind, dass Ernten rechtzeitig vom Feld auf den Markt gebracht werden können. Dies ermöglicht den Bauern, von ihrer Ernte zu leben. Gleichzeitig wird die Umsetzung dieser Projekte häufig kritisiert, da sie nicht nachhaltig genug sind, um den Gastländern zukünftig eine eigenständige Realisierung zu ermöglichen. 

 

Deutschland müsste einen Wandel durchmachen, was seine Esskultur betrifft. Wie meinen Sie das?
Südhoff:
Die von der UN beschlossenen Ziele gelten für die Entwicklungsländer ebenso, wie für uns. Unsere Aufgabe ist zweifellos, unser Leben und den Konsum wesentlich nachhaltiger zu gestalten, zum Beispiel durch weniger Verschwendung von Nahrungsmitteln. In Deutschland wird derzeit ein Drittel unserer Nahrung vergeudet. Es ist zudem äußerst unproduktiv, dass weite Teile der globalen Ernteerträge heutzutage nicht mehr als Nahrungsmittel zur Verfügung stehen, da diese als Viehfutter eingesetzt werden. Umgerechnet werden durchschnittlich sieben Kilo Mais oder Weizen benötigt, um ein Kilo Rindfleisch zu produzieren. Dieser Fleischkonsum ist weder ökonomisch, noch nachhaltig und treibt indirekt den Klimawandel massiv voran. 

 

Wie stark begünstigt die Aussage der Weltgesundheitsorganisation, über die gesundheitsgefährdende Wirkung des Fleischkonsums, Ihre Tätigkeit?
Südhoff:
Es ist hilfreich, neben den negativen Folgen für andere Menschen, auch den gesundheitlichen Aspekt in den Vordergrund zu rücken. Der Trend in Richtung Bio-Produkte ist in Deutschland das beste Beispiel dafür. Der durch die Umweltbewegung propagierte Umschwung zu biologisch angebauten Lebensmitteln kam durch den BSE-Skandal, da er die Leute für dieses Thema gesundheitlich sensibilisiert hat. Erst durch diesen Skandal begann der wahre Bio-Boom. Beim Fleischkonsum würde eine gemäßigte und nicht eine vegetarische Ernährungsweise schon ausreichen: Zwei Tage in der Woche auf Fleisch zu verzichten, würde bereits allen Beteiligen weltweit helfen. 

 

Ist Nachhaltigkeit ein übergreifender Faktor für die Organisation? 

Südhoff: Wenn wir über Deutschland reden, ist das Thema Nachhaltigkeit primär. Es betrifft in erster Linie unsere Lebensweise und unsere Einstellung zu den Problemen in der Welt. Wir dürfen uns nicht darauf ausruhen, indem wir irgendwelchen Helfern die Aufgabe über- lassen, die weltweiten Probleme zu lösen. Es liegt an uns, den Klimawandel abzumildern, denn das ist vor allem hier nötig. 

 

Es ist allgemein bekannt, dass der Klimawandel nicht mehr umkehrbar ist. Bereiten Sie sich schon auf die Folgen des Klimawandels vor?
Südhoff:
Das Ziel, die globale Erwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, wurde auf der Klimakonferenz in Paris definiert und wenn uns das nicht gelingt, gibt es die verschiedensten Szenarien über die Folgen. Die entscheidende Frage ist also tatsächlich nicht mehr, ob der Klimawandel eintritt, sondern in welchem Ausmaß. Zum Beispiel könnte sich, laut diverser Berechnungen, die Zahl der hungernden Kinder, aufgrund von Ernteausfällen in den Entwicklungsländern und weiterer Umweltkatastrophen, weltweit um weitere 20 Millionen erhöhen. Es wird immer wieder unterschätzt, dass einer der größten Treiber des Klimawandels die Landwirtschaft ist, dabei wird hier der Zusammenhang besonders deutlich. Die Rodung von Waldflächen trägt beispiels- weise massiv zum Klimawandel bei. Eine entscheidende Rolle für den Klimawandel werden also auch nachhaltige landwirtschaftliche Methoden sein. So könnten wir die Erträge vieler Bauern, zum Beispiel durch ein einfaches Training, Werkzeuge, einen Mikro-Kredit für Saat- gut, in den Entwicklungsländern verdoppeln oder verdreifachen und so unsere Ressourcen, die Wälder und das Klima dauerhaft zu schonen. 

 

„Die Lösung ist, sich bewusst zu machen, dass drei von vier hungernden Menschen, wie Kleinbauern und Landarbeiter, weltweit Nahrungsproduzenten sind. Sie produzieren Nahrungs- mittel in Handarbeit, von der sie nicht leben können.“ 

 

Es gibt Stimmen, die behaupten, mit Hilfe von Forschung und Technologie den Welthunger besiegen zu können. Glauben Sie an so etwas?
Südhoff:
Ich glaube nicht, dass es der Schlüssel ist, um den Welthunger zu besiegen. Die Lösung ist, sich bewusst zu machen, dass drei von vier hungernden Menschen, wie Kleinbauern und Landarbeiter, weltweit Nahrungsproduzenten sind. Sie produzieren Nahrungsmittel in Handarbeit, von der sie nicht leben können, müssen also zusätzlich Essen kaufen, ohne es sich leisten zu können. Diesen Betroffenen müssen wir durch Training und Lagerungsmöglichkeiten eine größere Produktion ermöglichen, um auf diese Weise mit wenigen Maßnahmen in kürzester Zeit sehr viele Menschen vom Hunger zu befreien. Eine faire Ressourcenverteilung zwischen Männern und Frauen würde in den Entwicklungsländern alleine an die 150 Millionen Menschen vom Hunger befreien. 

 

Haben alle Länder der Agenda 2030 zugestimmt?
Südhoff:
Die Agenda der UN ist kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern eine freiwillige Vereinbarung zwischen allen UN-Mitgliedstaaten. Die großen Ziele, die 17 „Global Goals“, sind von allen Mitgliedstaaten mit beschlossen und anerkannt worden. Die UN hat aber keine Macht, direkt in die Nationalstaaten einzugreifen. Wie bei den meisten UN-Beschlüssen gibt es keinen Sanktionsmechanismus, wenn ein Land diese Ziele missachtet. 

 

Sie haben vor Kurzem eine weitere Budgeterhöhung vonseiten der deutschen Bundesregierung bewilligt bekommen. Wo gehen die Gelder hin?
Südhoff:
Diese Gelder gehen nach Syrien und in die Nachbarstaaten. Dort wird es die Hilfsprogramme geben, über die wir vorhin gesprochen haben. 

 

Wie lange wird der Konflikt ihrer Meinung nach in Syrien noch dauern?
Südhoff:
Das weiss niemand, viele erwarten noch Jahre, zugleich gab es erstmals wieder Friedensgespräche. Allemal müssen wir uns, zum ersten Mal, mit vier Krisengebieten zur gleichen Zeit beschäftigen und uns darauf einstellen, dass im Irak, Jemen, Südsudan und in Syrien massive Hilfen für Menschen erforderlich sein werden. 

 

Müssen wir damit rechnen, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen? 

Südhoff: Ich glaube grundsätzlich, dass die Anzahl an Flüchtlingen, die nach Europa kommen werden, höher sein wird, als noch vor einigen Jahren. Das wird Europa viel abverlangen, auch Deutschland, welches so großes Engagement zeigt. Allerdings gilt zu bedenken, dass, wie beschrieben, im Libanon auf jeden vierten Einwohner ein Flüchtling kommt und ähnliche Situationen in Jordanien oder Ländern wie dem Südsudan herrschen. In Deutschland wären das 20 Millionen Flüchtlinge. Circa 90 Prozent der Flüchtlinge bleiben in ihrer Heimat und fliehen in eine andere Region, wo sie auf mehr Sicherheit hoffen. Der größte Teil der übrigen 10 Prozent flieht in andere Entwicklungsländer und die Region rund um das Krisengebiet. Deshalb müssen wir diese Länder auch entlasten. 

 

Das sind große Herausforderungen, die in den nächsten Jahren auf Sie zukommen...
Südhoff:
Dafür sind wir da, doch es stimmt: Alleine werden wir Helfer diese Herausforderungen nicht meistern.