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Editorial Herbst 2013

Ein neues Kind, ein neuer Mensch. Mein Sohn - seit drei Wochen. Oder seit neun Monaten und drei Wochen, besser gesagt. Einer, der ganz am Anfang steht. Die ersten Stunden auf der Erde, die ersten Tage und ein ganzes Leben wie ein weißes, unbeschriebenes Buch vor sich. Ein Junge, der manchmal, wenn er zornig ist und sich gerade überlegt, ob er seine Stimme laut der ganzen Welt demonstrieren möchte à la "Schaut, jetzt bin ich da" - der dann manchmal aussieht wie ein Opa in klein. So, wie er vielleicht einst am Ende seines Lebens aussehen wird. Und es wird einem bewusst, wie wenig eigentlich zwischen beiden Phasen liegt - Lebensanfang und Ende. Auf dem Standesamt, auf dem wir den Kleinen anmelden durften, stand am Türschild nebenan doch tatsächlich "Abteilung Geburten/Sterbefälle". Amtlich gesehen wohl ein ähnlicher Vorgang - das An- und Abmelden auf der Erde. Und was machen wir zwischen diesen beiden Meldungen? Meine Meinung? Sehr, sehr wenig. Viel zu wenig für die wohl einmalige Möglichkeit, leben zu dürfen. Höchstwahrscheinlich einmalig ... Man weiß es ja nicht so genau. Trotzdem - das, was da in den ersten Lebensstunden scheinbar sooo lang vor einem liegt, erscheint mit fortschreitendem Alter insgesamt immer kürzer. Und es vergeht immer schneller, dieses Leben. Wie ein Rad, das sich in Schwung gesetzt immer rasanter dreht. Die Wiege, die ich aus dem Keller geholt habe, der Kinderwagen, die Wickelkommode ... Meine Güte, eben lag da noch meine Tochter drin. Jetzt ist sie neun Jahre alt, fährt mit dem Taxi allein zur Chorprobe und verbringt die Nachmittage lieber mit ihren Freunden, als nach familiären Ausflügen zu quengeln. Ach, würde sie doch nur wieder quengeln. Aber die Zeit geht weiter, das Rad läuft. Immer schneller, wie gesagt. Nun ein neues Kind also, das im Wagen liegt. Ich bin zehn Jahre älter und - hast du nicht gesehen - wird auch mein Sohn bald seine eigenen Wege gehen. Sollte ich nun nach Klischee sagen: Könnte man die Zeit doch nur anhalten? Würden wir das wollen? Nein, weil Leben Veränderung bedeutet. Und so wie ich mich damals über meine Kleine gefreut habe, freue ich mich jetzt über meinen Sohn. So wie ich mich an Bord der Weltreiseschiffe wohlgefühlt habe, gehe ich nun gern mit dem Kinderwagen durch den Park, so wie ich es liebe, Tag und Nacht zu arbeiten, bin ich jetzt meist mit meinem Jungen beschäftigt (wie gesagt - es sind ja erst drei Wochen seit der Geburt). Es gibt also für alles seine Zeit. Es ist wenig ... Das sollte uns bewusst sein. Das muss uns bewusst sein. Und wir sollten dieses Bewusstsein in jeden Augenblick legen, um die Zeit "dazwischen" intensiv mit Liebe, Genuss und ehrlichem Glück zu verbringen. Nichts anderes zählt! Willkommen, mein Sohn!

Herzlichst!

Anja K. Fließbach