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Volkskrankheit Kurzsichtigkeit
Kurzsichtigkeit (Myopie) ist die häufigste Entwicklungsanomalieder Augen. Aktuell sind weltweit 1,5 Milliarden Menschen betroffen,0,05 Milliarden sind mit mehr als sechs Dioptrien (D) „hochmyop“. Bis 2050 werden diese Zahlen auf fünf Milliarden respektive eine Milliarde ansteigen. In einigen asiatischen Ländern sind bis zu 96 Prozent der 20-Jährigen myop. In Europa sind aktuell 47 Prozent der 25-Jährigen betroffen.
Die WHO hat die Zunahme der Myopie zu einem weltweiten Gesundheitsproblem erklärt und listet sie unter den fünf Augenerkrankungen,deren Eindämmung höchste Priorität hat. In den USA werden die jährlichen Kosten der Myopie auf 139 Milliarden Dollar geschätzt. HoheMyopie ist neben hohem Lebensalter der Hauptrisikofaktor für gravierende Augenerkrankungen wie Makuladegeneration, Netzhautablösung,Katarakt und Glaukom. Myopie beginnt meist im Grundschulalter und schreitet bis zum frühen Erwachsenenalter fort. Somit ist sieein kinder- und augenheilkundlich sehr relevantes Thema.Was sind einerseits die Ursachen der Myopie und andererseits dieGründe ihrer zunehmenden Häufigkeit? Zunächst spielen genetischeFaktoren eine Rolle. Myopie bei Eltern ist ein eindeutiger Risikofaktorfür Myopie ihrer Kinder. Das Consortium for Refractive Error andMyopia hat Daten der bislang umfassendsten genomweiten Metaanalyseaus 32 Kohorten unterschiedlicher Herkunftsländer mit insgesamt45 758 Individuen vorgelegt. Hierin wurden 24 verantwortliche Geneidentifiziert, mit hoher Übereinstimmung asiatischer und kaukasischer Populationen.
„Zunächst spielen genetische Faktoren eine Rolle. Myopie bei Eltern ist ein eindeutiger Risikofaktor für Myopie ihrer Kinder.“
Die rasche, pandemische Zunahme der Myopie kann jedoch nur durchUmweltfaktoren und Verhalten erkla?rt werden: Inzwischen steht außerZweifel, dass Myopie mit dem Bildungsgrad und dem Ausmaß anNaharbeit korreliert. Kinder mit geringer Tageslichtexposition habenein erhöhtes Risiko, myop zu werden. Daher ist es ein dringendes Ziel,die Progression einer Myopie zu verlangsamen, und zwar dann, wennsie beginnt, also im Grundschulalter. Wenn es gelingt, durch therapeutischeMaßnahmen die Myopieprogression um nur 33 Prozent zu mindern,kann man bezogen auf die Gesamtbevölkerung davon ausgehen,dass der Anteil hoch myoper Menschen um 73 Prozent sinkt und damit das Risiko für sekundäre Augenerkrankungen deutlich abnimmt. Im Folgenden werden die drei Maßnahmen erläutert, welche betroffenen Kindern angeboten werden können.
Der positive Einfluss einer hohen Beleuchtungsstärke und der negative Einfluss von Naharbeit sind lange bekannt. Bereits 1892 vertrat der deutsche Augenarzt Hermann Cohn die Meinung, dass die geringen Beleuchtungsstärken in vielen Schulen ein Risiko für die Myopieentstehung darstellen. Er propagierte, dass Lesen in der Schule auf die hellen Mittagsstunden beschränkt werden sollte. 1935 schrieb derbritische Augenarzt Sir William Duke-Elder “The regime of modernschools imposes far too much application to books upon young childrenat an age when they require all their available vitality for physicalgrowth and development.”. 80 Jahre später sind digitale Medien dazugekommenund diese Aussagen haben sicher immer noch Gültigkeit.Die amerikanische Orinda-Studie zeigte, dass Drittklässler im Fünfjahresverlauf mit jeder Stunde Tageslichtexposition pro Woche ihr Myopierisiko um zehn Prozent senkten. Eine Metaanalyse basierendauf sieben Querschnitt studien und 16 kleineren Untersuchungen ergab,dass die Myopie wahrscheinlichkeit mit jeder Stunde Tageslichtexposition pro Tag um 15 Prozent sinkt. Eine zweiarmige Studie aus Taiwanmit 571 Kindern im Alter von sieben bis elf Jahren ergab, dass Kinder,welche die Schulpausen draußen anstatt im Schulgebäude verbrachten,das heißt, im Mittel täglich 80 Minuten länger draußen waren, ein halbiertes Risiko für das Auftreten einer Myopie hatten. Eine ähnliche Studie aus China an insgesamt 1903 Schülern im mittleren Altervon sieben Jahren, von denen die eine Hälfte aufgefordert wurde, 40 Minuten länger pro Tag als üblich draußen zu sein, ergab, dass das Myopierisiko durch diese Maßnahme von 40 Prozent auf 30 Prozent abnahm. Ferner lag die Myopie progression über drei Jahre in der Interventionsgruppe bei 1,4 D und in der Kontrollgruppe bei 1,6 . Eine weitereebenfalls chinesische Studie an 3 051 Kindern im Alter zwischensechs und elf Jahren zeigte, dass 20 Minuten zusätzliches Tageslichtdas Auftreten einer Myopie innerhalb eines Jahres von neun Prozentauf vier Prozent und die Refraktionsänderung von 0,3 D / Jahr auf 0,1D / Jahr senkte. Somit zeichnet sich inzwischen ein recht konsistentes Bild, welches allerdings ausschließlich auf Daten aus Asien basiert.
Atropin-Augentropfen
Seit über 100 Jahren ist bekannt, dass Atropin-Augentropfen Myopieprogressionmindern. Aufgrund von Nebenwirkungen (Blendungsempfindlichkeit,Nahsehstörungen) bot sich diese Therapie bishernicht wirklich an. Erst die neueren Studienergebnisse mit niedrigkonzentriertem Atropin lassen diesen Ansatz als sinnvolle Option erscheinen.Eine MEDLINE-Literatursuche liefert zum Zeitpunkt derErstellung dieser Pressemitteilung 90 Publikationen. Jedoch ist nur eine Studie eine vollständig randomisierte, kontrollierte klinische Studie,nämlich die ATOM (Atropine in the Treatment of Myopia)-Studieaus Singapur, in welcher Atropin-Augentropfen in vier verschiedenenKonzentrationen über eine Behandlungszeit von zwei Jahren mit Plazeboverglichen wurden. Während die Progression unter Plazebo 1,20D / Jahr betrug, lag sie unter Atropin 1 Prozent bei 0,2, mit Atropin 0,5Prozent bei 0,30, mit Atropin 0,1 Prozent bei 0,38 und mit Atropin 0,01Prozent bei 0,49 D / Jahr. Seitdem sind zwei weitere vergleichsweisekleine Studien zu dem Thema veröffentlicht worden: In einer chinesischenArbeit wurde einprozentiges Atropin gegen Plazebo geprüft.Während der Beobachtungszeit von einem Jahr fand unter Atropin keineProgression statt. In einer US-amerikanischen, multiethnischen Studiereduzierte 0,01Prozentiges Atropin die Progression im Vergleichzu Plazebo von 0,6 D / Jahr auf 0,1 D / Jahr. Nach dieser Metaanalyse wurde aus den Niederlanden eine Anwendungsbeobachtung publiziert,in welcher 77 myope Kinder mit hauptsächlich europäischer Abstammung und einem mittleren Alter von zehn Jahren mit 0,5 Prozent Atropin behandelt wurden. Zu Beginn der Therapie lag die mittlere Refraktion bei -6,6 D. Vor Therapie betrug die jährliche Progression1,0 D / Jahr, danach 0,1 D / Jahr. 72 Prozent der Kinder berichteten über Lichtempfindlichkeit unter dieser hohen Dosis, 38 Prozent gaben Leseprobleme an und 22 Prozent Kopfschmerzen. Somit ist diese hohe Konzentration im ersten Behandlungsjahr zwar sehr effektiv, aber aufgrund der Nebenwirkungen nicht zu empfehlen. Die messbaren Nebenwirkungen sind unter niedrig dosiertem Atropin weitaus geringer und klinisch kaum relevant. In der ATOM2-Studie hatten Kinder unter Therapie mit 0,01 Prozent Atropin eine Mydriasis von 1 mm und eine Hypoakkommodation von zwei D. Loughman und Flitcroft berichten,dass 0,01 Prozent Atropin bei 14 irischen Studenten zwischen 18 und 27 Jahren zu einer Mydriasis von 1,2 mm und einer Hypoakkommodation von 1,1 D führte. Die Lesegeschwindigkeit war nicht beeinträchtigt. Cooper et al. ermittelten an zwölf amerikanischen Kindern im Alter zwischen acht und 16 Jahren eine Grenzdosis von 0,02 Prozent. Ein Editorial endet mit folgendem Absatz: “Almost all recent studieson atropine have been carried out on children of Chinese origin, and itis well known that cycloplegia is more difficult in children with darkeririses. Conversely, it is likely that the concentrations of atropine thatare optimal in Chinese children may be too strong for use with childrenwith light colored irises, at least in relation to the side effects. So a good trial with children of European ancestry is a significant priority.”
Bifokalbrillen und multifokale Kontaktlinsen
Eine weitere Möglichkeit der Minderung einer Myopieprogression sind optische Mittel wie Bifokalbrillen oder multifokale Kontaktlinsen.Ihr Wirkungsprinzip beruht auf der optischen Korrektion der relativen Weitsichtigkeit der peripheren Netzhaut, die sich häufig bei Myopen findet, das heißt, dass diese Augen eine sogennante prolate Form haben und sich die Lichtstrahlen in der optischen Achse vor der Netzhaut bündeln, in den Außenbereichen der Netzhaut aber dahinter.Dieser optische Fehler fördert und unterhält die Myopieprogression. Asphärische Brillengläser, Bifokalgläser mit großem Nahteil und entsprechend optisch aufgebaute, also multifokale Kontaktlinsen können den peripheren Defokus korrigieren. Inzwischen liegen verschiedene randomisierte,kontrollierte Studien vor, welche multifokale Linsensysteme mit monofokalen Kontaktlinsen vergleichen. Anstice et al. untersuchten 40 Kinder im Alter zwischen elf und 14 Jahren mit einer mittleren Myopie von 2,7 D. Mit Standardlinsen lag die Progression bei 0,7 D /Jahr, mit multifokalen bei0,4 D / Jahr, die Progressionwurde also um 26 Prozent gemindert. Lam et al. untersuchten 128 Kinder im Alter zwischen acht und 13 Jahren und einer Myopie von ein bis fünf D. Unter monofokalen Linsen betrug die Progression 0,4 D / Jahr, mit multifokalen Linsen 0,3 D / Jahr, entsprechend 25 Prozent Progressionsminderung. Alleret al. untersuchten 86 Kinder zwischen acht und 18 Jahren mit einer mittleren Myopie von 2,7 D. Unter monofokaler Kontaktlinse betrug die Progression 0,8 D / Jahr, mit einer multifokalen Linse nur 0,2 D/ Jahr. Hier lag die Progressionsminderung mit 72 Prozent wesentlich höher und die Autoren verwiesen darauf, dass weitere Studien notwendig sind, um die spezifischen Faktoren und Mechanismen zu identifizieren,die einen so hohen Effekt ermöglichten. Alle bei diesen Studienverwendeten Multifokal-Kontaktlinsen wiesen eine zentrale Fernzoneund eine periphere Addition von bis zu 2,5 D auf. Ferner handeltes sich bei den bisher geprüften multifokalen Linsen ausschließlichum Weichlinsen. Hier wäre es wünschenswert, wenn es in Zukunftformstabile Alternativen gäbe, welche einen kornealen Astigmatismusausgleichen können und ein geringeres Infektionsrisiko aufweisen.Gewöhnliche monofokale Kontaktlinsen haben im Vergleich zur Brillenkorrektionkeinen progressionsmindernden Effekt. Im Vergleich zuAtropin-Tropfen sind die Effektgrößen der Progressionsminderungdurch optische Mittel geringer. Die bereits erwähnte Netzwerk-Metaanalysealler bisher publizierten Studien reiht die Effektgrößen inBezug auf die Progressionsminderung in D / Jahr wie folgt: Atropin-Tropfen hochdosiert 0,68, Atropin-Tropfen niedrigdosiert 0,53, Cyclopentolat-Tropfen 0,33, Pirenzepin 0,29, peripheren Defokus korrigierendeKontaktlinsen 0,21, täglich zwei Stunden Tageslicht 0,14,Gleitsichtbrillen 0,14, peripheren Defokus korrigierende Brillengläser0,12, bifokale Brillengläser 0,09. Bisher nicht untersucht wurden möglicheadditive Effekte dieser Therapieformen. Es steht außer Zweifel,dass weitere prospektive, randomisierte, kontrollierte klinische Studiennotwendig sind, um die Wirksamkeit dieser Therapien auch füreuropäische Kinder zu belegen.