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Thomas de Maiziére (3): "Wer alles toleriert, der respektiert auch nichts."
Bundesinnenminister Thomas de Maizière spricht vor und mit Schülern der Dresden international School über das Thema Toleranz.
Statt zu fragen, wo Toleranz aufhört, möchte ich mit der Frage anfangen, womit sie beginnt. Wer von Toleranz spricht, der spricht nämlich auch immer von Freiheit.
Freiheit ist der Beginn von Toleranz und reden wir über das Ende von Toleranz, meinen wir damit auch die Begrenzung von Freiheit. Deswegen hat Christian Graf Krockow das Ende von Toleranz einmal als Verweigerung von Freiheit bezeichnet. Ich beginne also mit beiden Begriffen, Toleranz und Freiheit.
Wir leben in einer freiheitlichen Gesellschaft. Mit Gesetzen festzulegen, wo wir anderen Menschen die Ausübung ihrer Freiheit verweigern wollen, das ist nicht leicht. Und es kommt hinzu, dass Toleranz bei jedem von uns woanders endet. Die Toleranzschwelle ist bei jedem unterschiedlich hoch. Wenn wir die Lehrerinnen und Lehrer der Dresden International School fragen würden, würden diese das ebenso sofort bestätigen, wie die Schülerinnen und Schüler. Wenn wir aber Regeln für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft aufstellen wollen, sozusagen Leitsätze über das Ende von Toleranz, dann reicht der Blick auf unterschiedliche Temperamente, auf Geduld von Einzelnen natürlich nicht aus. Dem Ende von Toleranz, vom Zusammenleben insgesamt müssen wir uns also anders nähern.
Wer für Toleranz wirbt, der muss sagen, wer oder was toleriert werden soll. Er ist sozusagen der Ansager, der Toleranzansager, und Bestimmer. In dieser Bestimmung liegt aber schon eine Rollenverteilung. Hier, der Eine, der toleriert und dort der Andere, der toleriert werden soll. Der Eine wird hervorgehoben, der Andere hebt heraus. So wird eine Rangordnung geschaffen, der Tolerante oben, der Tolerierte unten. Einige sagen deswegen, dass bereits die Werbung für Toleranz eine Herabsetzung des Tolerierten in sich trägt. Sie sagen, Toleranz sei deshalb das falsche Wort, Toleranz sei die falsche Methode. Sie sagen, wir brauchen Akzeptanz statt Toleranz. Ist das richtig? Müssen wir alles akzeptieren, was wir tolerieren müssen? Nein, der Meinung bin ich nicht. Akzeptanz bedeutet, dass ich für mich etwas annehme. Das ich damit sogar vielleicht einverstanden bin.
Das, immer und von Jedem zu verlangen, ist aber nicht möglich. Niemand kann sich mit zwei völlig widersprechenden Positionen einverstanden erklären. Warum sollten wir auch etwas akzeptieren, mit dem wir ganz und gar nicht einverstanden sind? Ein Recht auf Akzeptanz, von Jedem und Allem, kann es nicht geben. Denn ein solches Recht führt in die Beliebigkeit. Wer alles akzeptiert, der akzeptiert letztlich gar nichts. Wer alles akzeptiert, hat keine eigene Meinung mehr und wer alles akzeptiert, der kann auch Niemandem Orientierung geben.
Wir müssen also beim Unterschied zwischen den Worten Toleranz und Akzeptanz und bei der Methode des Tolerierens bleiben, so kompliziert und schwer es manchmal auch sein mag. Toleranz bedeutet wörtlich, vom Lateinischen übersetzt: ‚etwas zu erdulden‘ oder ‚zu ertragen‘. Das ist keine besonders positive Übersetzung. Man verbindet mit ‚Erdulden‘ oder ‚Ertragen‘ eher etwas Unangenehmes. Etwas, das man eher vermeiden möchte, aber das genau ist der Kern von Toleranz. Auf diese Weise wurde Toleranz auch lange gelebt. Die Geschichte der Toleranz ist allerdings nicht von Rom geprägt, auch nicht von Europa. Über Jahrhunderte war Europa kein Hort von Toleranz, mit wenigen Ausnahmen. Zu diesen Ausnahmen gehören zum Beispiel die Holländer als Nation der Seefahrer. Sicher haben viele von Ihnen nun die Vermutung, dass die Holländer tolerant waren, weil sie andere Kulturen kennengelernt haben, weil sie ein Verständnis für andere Lebensweisen entwickelten und weil sie deswegen Fremdes nicht als Bedrohung wahr genommen haben. Vielleicht war es auch so. Es gibt aber viele Historiker, die den Grund für die Toleranz der Holländer nicht in einem besonderen Verständnis für das Fremde sahen, sondern an einer ganz anderer Stelle. Toleranz war Voraussetzung für das Tragen von Waffen, Toleranz war zuallererst Eigennutz und Toleranz war vor allem Geldwert. Sie war Voraussetzung für das gute Geschäft der Holländer in der Welt, Lebensgrundlage für Menschen, die von der Seefahrt lebten. Die Regel lautete, ohne Toleranz kein gutes Leben. Das war früher so, aber wie ist es heute? Ist es heute so ganz anders? Ich denke nicht! Gilt die alte Regel nicht auch heute? Auch heute sind wir vor allem aus Eigeninteresse tolerant. Das ist super bequem und klingt nobel. Aber tolerant sein heißt auch, dass wir uns zwingen müssen, bestimmte Lebensentwürfe und Sichtweisen zu tolerieren, auch dann, wenn wir sie eigentlich ablehnen, jedenfalls aber nicht akzeptieren. Ein Motiv für Toleranz ist sozialer Frieden. Wir wollen friedlich miteinander zusammenleben, lieber keinen Ärger. Mit Toleranz haben wir scheinbar ein bequemeres Leben. Weil ein gutes Leben ein Leben in sozialem Frieden ist. Wegschauen als Toleranz, das gibt es oft. Aus dieser Überlegung könnte man nun, für mein Thema, für unser Thema, folgende Konsequenz ziehen: Die Erhaltung des sozialen Friedens ist die Richtschnur für das Ende von Toleranz. Wer den sozialen Frieden stört, dem muss man intolerant begegnen. Das klingt plausibel. Aberwer legt fest, wann der soziale Frieden gestört ist? Wer ist der Rich- ter? Und wann ist der soziale Frieden gestört? Durch das Tragen einer Burka? Oder bei großen Demonstrationen für ausländische Regierungschefs? Oder am Nationalfeiertag? Ab wann ist Freiheit unsozial?
Die Sicherung des sozialen Friedens mag ein reizvolles Kriterium sein für das Ende der Toleranz. Es ist aber zu abstrakt, um uns bei der Frage nach dem Ende der Toleranz wirklich weiterzuhelfen.
Wir sprechen im Moment viel über Integration und die Richtung, die sie braucht. Wir sagen, die Menschen, die als Flüchtlinge zu uns gekommen sind und wohl bleiben werden, müssen sich an unsere Werte und unsere Art zu leben halten. Wir sagen: eine ganz andre Art zu leben können und wollen wir nicht tolerieren. Wir sagen: bei der Nichtachtung unserer Werte endet Toleranz. Aber wissen wir, was mit 'unseren' Werten eigentlich gemeint ist? Was ist denn unsere Meinung, unsere Haltung zu allen Themen? Vielleicht sind einige Menschen bei vielen Dingen so tolerant, weil sie selbst gar keine Meinung dazu haben, sie tolerieren eben einfach alles. Wer aber alles toleriert, der respektiert eigentlich nichts. Und vielleicht sind andre ziemlich intolerant, weil sie ebenfalls keine eigene, starke Meinung haben. Sie tolerieren nichts. Wer aber nichts toleriert, der respektiert auch nichts.
Meine These ist: Nur wer weiß, wofür er oder sie steht und was ihn oder sie ausmacht, der kann wirklich tolerant sein und Grenzen von Toleranz erkennen und festlegen. Das gilt für einen Menschen, das gilt aber auch für das ganze Land. Nun mag es eine längere Liste geben über die Dinge, die unser Land als solches ausmacht. Es gibt das Grundgesetz mit den Grundrechten, die Grenzen, die das Strafrecht setzt, darüber verhandeln wir nicht. Wer davon abweicht, dem begeg- nen wir intolerant. Aber das reicht sicher nicht aus. Deswegen will ich beispielhaft aus einer sicher längeren Liste, über die wir wahrschein- lich noch diskutieren werden, Dinge nennen, die aus meiner Sicht, auf der Liste dessen stehen müssten, was uns ausmacht als Gesellschaft in Deutschland. Drei Dinge, für die unser Land jedenfalls auch steht. Erstens: Zu unserem Land gehört eine besondere Sensibilität für Ge- walt. Ich meine keine Gewalt in Action Filmen, sondern Gewalt im realen Leben. Gewalt ist für die allermeisten Menschen unseres Lan- des kein Teil ihres Alltags und sie haben keine oder kaum eigene Erfahrung damit. Gewalt ist in unserem Land kein geduldetes oder zu tolerierendes Mittel des Miteinanders. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir sind uns sicher einig, dass es fast undenkbar ist, dass es im Deutschen Bundestag bei einer Debatte zu einer Prügelei zwischen Abgeordneten kommt. Das ist aber mitnichten überall auf der Welt so. Da müssen wir gar nicht in die Türkei, in die Ukraine oder nach Japan schauen. Auch in Italien war dies schon öfter zu beobachten. In unserm Land unvorstellbar. Die generelle Ablehnung und auch die gesellschaftliche Ächtung von Gewalt, ist eine Errungenschaft, die wir nicht exklusiv haben. In vielen Ländern wird Gewalt abgelehnt. Aber ich denke, in unserm Land ist diese Ablehnung, auch im internationalen Vergleich, besonders stark ausgeprägt. Sie gehört damit auch zu unserem Land. Gleichzeitig erleben wir eine Zunahme politischer motivierter Gewalt. Und das sollte uns mehr stören, aufwühlen, Grenzen der Toleranz setzen lassen.
Zweiter Punkt: Unsere Fähigkeit zur Auseinandersetzung und Debatte. Wir leben in ständigen Verhandlungen über fast alles, was unser Leben und unseren Alltag betrifft. Es geht in der Familie los: „Wann muss ich heute ins Bett gehen?“, ist sehr früh Gegenstand von innerfamiliären Verhandlungen. In Schulen gibt es Verhandlungen bis hin natürlich zur Politik. Wir sind uns einig, dass wir über viele Fragen uneinig sind. Wir diskutieren über beinahe alles miteinander, vom Atomausstieg bis zur Zuwanderung. Unser Land lebt von der Vielfalt der Meinungen und vom Streit um die beste Lösung. Wir lassen Uneinigkeit nicht nur zu, sondern brauchen und fordern sie dann an vielen Seiten. Streit und Diskussion waren und sind mühsam, aber auch das hat unser Land erfolgreich gemacht. Auch wenn viele Menschen gleichzeitig Streit in der Debatte und Einigkeit in der Politik wollen. Hinter dieser Gewissheit stecken Erfahrungen aus unserer Geschichte. Keine oder eine sehr schwache Opposition war für unser Land immer von Nachteil. Egal, unter welcher Führung und egal, zu welcher Zeit in unsrer Geschichte. Reibung und Debatten haben uns weiter gebracht, auch das hat sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt und auch das gehört in gewisser Weise zu uns. Und auch das Folgende, was uns vielleicht auch von anderen Staaten unterscheidet, nämlich, dass nach strittigen Debatten und Entscheidungen der Politik, meistens die Minderheit die Grundentscheidung, auch auf Dauer, akzeptiert, die die Mehrheit ge- troffen hat. Mein dritter Punkt: Unser besonderes Verhältnis von Staat und Religi- on. Der Staat steht den Religionen in unserem Land neutral gegenüber, dass bedeutet vom Staat getrennt, offen, aber auch kooperativ. Den Kirchen freundlich zugeneigt, klar im Verhältnis vom weltlichen zum kirchlichen Recht. Mit kirchlichen Feiertagen, Staats und Kirchenver- trägen, Glockenläuten, kirchlichen Privatschulen mit staatlicher An- erkennung, mit Diakonie und Caritas. In andern Ländern der Welt ist das ganz anders geregelt. Das Staats - Kirchen Verhältnis ist eine der ganz wenigen Besonderheiten, die es so nur in unserem Land gibt. Das ist eine deutsche Besonderheit, sie ist damit Teil unserer Identität. Ich könnte diese Liste weiterführen, etwa über die Frage von Kultur und Geschichte. Aber ich will es bei diesen drei Punkten belassen, weil sie nur die Methode deutlich machen will, für die ich werben möchte. Lassen sie mich deshalb meine These wiederholen: Wer weiß, wofür er steht, der kann beginnen tolerant zu sein und damit auch das Ende von Toleranz festlegen. Mein und unser Land steht, unter anderem, für diese drei Punkte. Es ist nun nicht schwer, bei diesen Punkten das Ende für Toleranz zu bestimmen. Unsere Toleranz muss enden bei der Anwendung von Gewalt, in der Tat und auch in der Sprache, weil zu unserer Gesellschaft ein gewaltfreies miteinander gehört.
Unsere Toleranz muss enden, wenn Ansichten verabsolutiert werden, wenn keine Gesprächen, keine Diskussionen zugelassen werden, weil zu unserer Gesellschaft Streit und Auseinanderset- zung gehört. Und unsre Toleranz muss enden, wenn jemand seine Weltanschauung und seine Religion über staatliches Handeln stellt, weil zu unserer Gesellschaft eine klare Hierarchie zwischen Staat und Religion gehört. Oder wenn die Religionsausübung angetastet wird, genauso wenn sie die Freiheit anderer, oder sogar der Angehörigen einer Religion, unzumutbar beein- trächtigt. Überall, wo wir etwas anderes feststellen, muss unsere Toleranz enden Das ist kein Punkt, wo man sagt: da kann unsere Toleranz enden, dort müssen wir anderen ihre Freiheit verweigern. Wir haben eingangs über den Begriff der Duldung und der Methode der Toleranz gesprochen. Ich würde deshalb zum Schluss einen Vorschlag machen. Stellen wir uns also immer zuerst die Frage: Wo und wofür stehe ich? Und wofür stehen wir, und warum? Und sprechen wir erst dann über Toleranz und das Ende von Toleranz. Das sind zwei Schritte, nicht mehr. Das ist meine Methode und mein Vorschlag.
Die Frage wo Toleranz endet ist einfach gestellt. Und darin liegt die Schwierigkeit. Einfache Fragen sind oft schwieriger zu beantworten als komplizierte. Weil sie häufig dem Namenlosen näher liegt, den Dingen, die uns das Bauchgefühl sagt. Jeder spürt und fühlt, ob er etwas anderes annehmen oder ablehnen möchte und trotz Ablehnung, tolerieren muss. Oft stellt sich dieses Gefühl unabhängig von Worten und Argumenten ein. Diese Ablehnung oder dieses Annehmen auszusprechen, ist unser gutes Recht. Dieses Recht entlässt aber niemanden von dem Gebot, eine eigene Haltung zu haben zu entwickeln. Und eine echte Haltung erschöpft sich nicht in einer generellen Ablehnung von etwas oder im Erlauben von allem und jedem. Sie setzt eine eigene positive Standortbestimmung voraus, ein sich klar machen. Wie das Wort Selbstbewusstsein. Das verwenden wir meistens falsch. Im Sinne von Stark oder Arrogant. Nein, Selbstbewusstsein heißt, sich seiner selbst Bewusst sein. Nicht mehr und nicht weniger. Mit Stärken und Schwächen. Ich habe heute auch schon das Wort Gebot benutzt. Denn wie wir wissen, wird die Einhaltung von äußerst bekannten und in unserem christlichen Kulturkreis auch anerkannten Geboten, oft gefordert und nicht immer geübt. Wenn es aber gelingt von uns und anderen dieses Gebot zur eigenen Handlung, zur eignen Haltung, einzufordern und im miteinander zu ver- langen, dann kommen wir nicht nur beim Anfang von Toleranz zu vernünftigen Ergebnissen sondern auch bei der Bestimmung da wo sie aufhört. Und dann brauchen wir nicht ängstlich, sondern können Selbstbewusst sein.