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Nicht schießen, ich bin ein Freund!

Rüdiger Nehberg, deutscher Survival-Experte der ersten Stunde, sprach mit der Disy-Redaktion über seine großen Abenteuer. Sir Vival, so nennen ihn liebevoll seine Freunde und Mitstreiter. Seit über fünfzig Jahren ist der Abenteurer in der ganzen Welt zuhause. Er kämpfte erfolgreich für die Rechte des Indianer-Stammes Yanomami, überquerte mit einem Tretboot den Atlantik und lief von Hamburg nach Obersdorf ohne jegliche Hilfsmittel. Dieses Jahr feierte er seinen achtzigsten Geburtstag. Ans Aufhören denkt er noch lange nicht.

 

Seit Jahrzehnten kämpfen Sie für die Menschenrechte in Ländern der Dritten Welt. Was treibt Sie an? Ist Wut eine gute Motivation?

Nehberg: Ja. Augenzeuge sein und die Wut, die daraus resultiert. Schon während meiner Zeit bei den Indios erging es mir so. Als ich sah, wie die letzten 20.000 nackten, mit Pfeil und Bogen bewaffneten, Indianer gegen die 65.000, mit Schrotflinten und Revolvern bewaffneten Goldsucher ankämpften, packte mich ein unbändiger Zorn. Die Ureinwohner hatten gar keine Chance. Der Landraub verstieß gegen die Verfassung Brasiliens. Die Toten und die abgefackelten Dörfer, die ich sah - sie waren die Auslöser meiner Wut.

 

Das ist extrem. Und wie haben Sie diese Wut kanalisieren zu können?

Nehberg: Ich wurde kreativ. Ich habe die aberwitzigsten Aktionen durchgezogen. Ich habe Vorträge gehalten und Bücher geschrieben, den Papst um Hilfe gebeten, bin bei der Weltbank gewesen.

 

Welche Aktionen gab es denn noch?

Nehberg: Ich bin drei Mal über den Atlantik gefahren. Mit scheinbar idiotischen Fahrzeugen, die aber alle idiotensicher waren. Ich hatte ja keine Ahnung von Seefahrt und wollte aber auch nicht ersaufen.

 

Und welchen Sinn hatten diese Aktionen?

Nehberg: Als ich das erste Mal mit dem Tretboot über den Atlantik gefahren bin, war es ein Appell von Amnesty International und Greenpeace an den Staatspräsidenten Brasiliens. E-Mails wäre nie beantwortet worden. Auf diese Weise wollten wir das Leiden der Indianer wieder ins Gespräch bringen. Ich schaffte es auch dreimal bis in die brasilianischen Fernsehnachrichten. So musste es auch ein Staatspräsident zur Kenntnis nehmen.

 

 

Wie sind Sie auf das Thema Survival gekommen?

Nehberg: In Deutschland war das Thema völlig unbekannt. Wie ein Tier, ganz ohne Rucksack, allein klarkommen. Man lernt, wie man sich eine Steinaxt macht, sich in der Nacht warm hällt, sich einen Grabstock schnitzt und einbuddelt oder sich in der Not ernährt von unbekannten Pflanzen oder Insekten. Man lernt den Ekel zu überwinden. Das hat mich unabhängig gemacht von der Zivilisation.

 

Wohin ging ihre erste Survival-Expedition?

Nehberg: Zum Blauen Nil in Äthiopien. Eine Erstbefahrung durch 1.000 km Ur-Afrika. Viele weitere führten mich dann in den Regenwald Brasiliens zu den Yanomami-Indianern. Nur mit Badehose und T-Shirt bekleidet, um schon von weitem zu signalisieren, dass ich unbewaffnet bin. Mein weniges Gepäck trug ich in einem wasserdichten Kanister auf dem Rücken. Das waren ein Fotoapparat, ein paar Angelhaken, natürlich ein Messer und im Kanister, gut versteckt, doch ein Revolver. Wegen der Goldsucher. Und eine Mundharmonika, um den Indianern meine guten Absichten anzukündigen. "Wer schleicht, ist ein Feind. Wer laut kommt, ist ein Freund." Da war ich dann, mutterseelenallein bis urplötzlich drei Indianer vor mir standen.

 

Hatten Sie Angst?

Nehberg: Vor diesem Moment hatte ich monatelang vorher die meiste Angst gehabt. Ist die einzige Begegnung vielleicht ein Pfeil im Bauch? Um dem vorzubeugen, half mir die Mundharmonika. So relativierte sich die Angst.

 

Wie war ihr erstes Treffen mit den Indianern?

Nehberg: Ich hatte ein ganzes Programm, mit autogenem Training eingehämmert. "Nicht schießen, ich bin ein Freund!" Das war der einzige Satz den ich in ihrer Sprache konnte. Ich fing an rumzuturnen, habe Rad geschlagen, Purzelbäume gemacht. Die Indianer standen nur da und konnten es nicht fassen. Das hatte Weltpremiere. Bestimmt haben sie gedacht, ´Ein Idiot. Der kann uns nicht gefährlich werden. Den nehmen wir mit und amüsieren uns.`

 

Wie war das Zusammenleben mit den Indianern?

Nehberg: Ich habe sofort versucht, mich nützlich zu machen, damit sie mich nicht wieder fortjagten. Ich habe Kranken geholfen und bin meinen sozialen Verpflichtungen nachgekommen. Zum Beispiel war Läuseabsuchen ein tägliches Ritual. Die Läuse wurden auch sofort gegessen. Ich habe alles mitgemacht. So ist man schnell integriert. Iregdwann kamen Sie an die Goldgräber-Front. Da sah ich die Verwüstung. Primärer Urwald wurde in Wüste verwandelt. Die Erde wurde mit Hochdruckwasserstrahlen bis fünf Meter Tiefe aufgerissen. Ganze Berge wurden einfach weggespült auf der Suche nach Gold. Und wer da Widerstand wagte, wurde erschossen.

 

Wieso hatte man dagegen nichts unternehmen können?

Nehberg: Es war wie im wilden Westen. Jede Landepiste (davon gab es 120 Stück, allesamt illegal, gegen die Brasilianische Verfassung) wurde beherrscht von einem Mafiaboss. Der hatte seine Pistoleiros, seine Leibwächter. Er hatte Funk. Wenn er sich bedroht fühlte, bekam er sofort Hilfe vom Militär Es war alles gedeckelt. Der Gouverneur machte mit, der Staatspräsident wusste es. Zusammen mit Wolfgang Brög habe ich mich als Goldsucher verdingt. Mal als Boss, mal als "Sklave". Wolfgang hat das mit versteckter Kamera gefilmt. Der Film brachte den Durchbruch. Hauptsendezeit ZDF, mehrfach dann auch in Brasilien. Die pro-indianische Lobby wurde immer größer.

 

Bilder helfen viel, oder?

Nehberg: Ja, unbedingt! Man kann ja viel erzählen. Wenn man keine Bilder vorzuweisen hat, wird alles geleugnet. Bilder sind eine starke Waffe. Film ist noch besser, möglichst mit Ton.

 

Was hatte es bei ihnen ausgelöst, so investigativ hinter die Kulissen geblickt zu haben?

Nehberg: Ich habe während dieser ganzen Zeit gelernt, dass man nie aufgeben darf und kein Mensch zu gering ist, etwas zu verändern. Er braucht eine starke Motivation, Kreativität und Ausdauer und die Bereitschaft zum Risiko.

 

Hatte ihr Einsatz für Sie Konsequenzen?

Nehberg: Ich kann mich dort nicht mehr blicken lassen. Nachdem unser Film als Fortsetzungsserie gelaufen war, mehrfach, kannten uns alle. Meine damaligen ´Kampfpartnerin` Christina Haverkamp hat man in Boa Vista ein Auto in die Luft gejagt, man hat sie an einer Landepiste zur Prostitution zwingen wollen, wir mussten das Land fluchtartig verlassen. Irgendwann wusste ganz Boa Vista über uns Bescheid. Wir hatten uns ja als Malaria-Helfer ausgegeben. Mit Uniformen und Logo.

 

Was würden Sie Aktivisten raten?

Nehberg: Dass letztlich alle Veränderungen, alle großen Revolutionen, zunächst im Kopf einer Person entstanden sind. Ob Martin Luther, Che Guevara, Muhammed oder Jesus - irgendwie hatte jeder dieser Menschen eine Idee, fand Partner und Mitstreiter und wurde erfolgreich. Warum nicht in deinem Kopf, wenn du etwas für veränderungswürdig hältst?

 

Sie machten auch ein Survival-Experiment hier in Deutschland.

Nehberg: Ich bin von Hamburg bis nach Oberstdorf gelaufen. Knapp 1.000 Kilometer. Ohne Gepäck, ohne Nahrung, nur im Overall und mit Silberfolie, da es schon Oktober war und nachts Minusgrade herrschten. Ich wollte wissen, wie lange ich in der Not ohne Lebensmittel funktioniere bei täglicher Leistung von 50 Kilometern.

 

Haben Sie es geschafft?

Nehberg: Meine Kräfte reduzierten sich sehr schnell. Ich schaffte nachher nur noch 30 Kilometer am Tag. Zuerst baute der Körper das Fett ab, dann die Muskeln, zuletzt das Gehirn. Nach 23 Tagen war ich dann in Oberstdorf. Ich hatte da genau einen Pfund pro Tag an Gewicht verloren, insgesamt 25 Pfund. Ich habe ein Bild zuhause, darauf sehe ich aus wie meine eigene Leiche. Da war ich 40. Jeder dachte: "240"!

 

Sie haben viele Reisen in die arabischen Länder unternommen. Wie stehen Sie zu der jetzigen Situation? Ist der Islam gefährlich?

Nehberg: Islam nein, Islamismus ja. Zum Glück habe ich auf meinen Karawanen mit eigenen Kamelen durch arabische Länder die hohe Ethik der heiligen islamisch-nomadisch-arabischen Gastfreundschaft erfahren. Ich glaube, der Prozentsatz der friedlichen Muslime überwiegt dem der Terroristen. Leider dominieren die Verbrechen die Schlagzeilen, und die friedlichen Muslime bleiben dabei auf der Strecke.

 

Wann fand denn der erste Kontakt statt?

Nehberg: Es fing schon an, als ich mit 17 Jahren mit dem Fahrrad nach Marokko fuhr. Irgendwann wurde ich krank. Da haben mich Moslems mit in ihr Haus genommen, mir eine Schwitzkur verpasst und mich mit Tabletten vollgepumpt. Nach zwei Tagen war ich wieder fit und konnte weiter. Gab es auch eine einschneidende Erfahrung, welche ihre Haltung zum Islam für immer prägte? Nehberg: Der Höhepunkt wurde die Durchquerung einer Wüste in Äthiopien, der Danakil-Wüste. Sie verläuft parallel zum Roten Meer. Damals herrschte Krieg in Äthiopien mit Eritrea. Wir wurden mehrmals überfallen und irgendwann auch komplett ausgeraubt. Aber der Sultan hatte uns zwei Leibwächter und Wegbegleiter zur Seite gestellt. Zwei Mal wurde es besonders lebensbedrohlich. Wir wären erschossen worden, wenn nicht die Wegführer sich mit ihren Körpern schützend vor uns gestellt hätten. Den Angreifern sagten sie: "Das sind unsere Gäste. Wenn ihr sie erschießen wollt, müsst ihr durch uns hindurch schießen. Dann werdet ihr selbst Opfer unserer Blutrache."

 

Haben Sie da eine Lösung zu der derzeitigen Situation in Europa?

Nehberg: Europa kann nicht ganz Afrika aufnehmen. Es muss klar geregelt werden, wie lange ein Flüchtling welcher Nation Asyl erhält. Wer kriminell wird, muss sofort ausgewiesen werden. Auch Wirtschaftsflüchtlinge. Ich muss mich in den Ländern der Flüchtlinge auch deren Sitten anpassen. Wer bereit ist, sich hier zu integrieren mit Sprache und im Arbeitsleben, den würde ich jederzeit bevorzugen. Wichtig ist, das Übel vor Ort in Afrika auszurotten, indem man demokratische Bestrebungen unterstützt und Diktatoren bekämpft.

 

Also eher Hilfe zur Selbsthilfe anbieten?

Nehberg: Flüchtlinge in unbegrenzter Menge ungehindert einreisen zu lassen, ihnen lebenslängliche Hilfe zu gewähren, wäre das Ende der europäischen Kultur, die unsere Vorfahren mit Millionen von Todesopfern erkämpft haben.

 

Sie sind doch ein Optimist...

Nehberg: Ich bin doch Optimist, wenn ich sage, die Bedenkenträger haben Recht. Wie stehen Sie zu den Grausamkeiten von ISIS? Nehberg: Ein Rückschritt, ein Schlag ins Gesicht der Menschheit, insbesondere der Muslime. Da hilft nur eine schnelle, gemeinsame und harte Reaktion. Thema Gesundheit.

 

Wie haben Sie das alles nur geschafft?

Nehberg: Weiß ich auch nicht.

 

Härten Sie sich ab?

Nehberg: Ich habe früher viele Langstreckenläufe gemacht. Heute reduziert sich meine Gymnastik auf das Herumspringen auf der Bühne während meiner Vorträge. Außerdem sitze ich niemals still.

 

Wie ist das für Sie wenn Sie merken, dass die Kraft nachlässt? Ist es schlimm?

Nehberg: Na klar! Man möchte so bleiben, wie man immer war. Das Tröstliche ist, dass der Alterungsprozess das einzig Gerechte ist. Es trifft jeden. Egal, ob reich oder arm, Pflanze oder Tier.

 

Sind Sie darüber traurig?

Nehberg: Ich mache das Bestmögliche draus. Ein Resümee über ihre derzeitige Projekte!? Nehberg: Wir haben die wichtigste Voraussetzung geschaffen für das Ende der Weiblichen Genitalverstümmelung. Sie wurde für Muslime zur Sünde erklärt. Das in die Köpfe der Betroffenen zu hämmern, ist meine gegenwärtige Lebensaufgabe.

 

Sind Sie ein guter Diplomat?

Nehberg: Nein. Darum habe ich meine Reisen maximal zu dritt gemacht. Aber dass es mir gelungen ist, die höchsten Muslime der Welt an einen Tisch zu bringen und zum Umdenken zu bewegen, hat die Ursache, dass ich als Beduine zu Beduinen komme, auf Augenhöhe, als Bittsteller und als jemand, der nicht der Meinung ist, die Christen seien besser als die Muslime. Ich erinnere an die Hexenverbrennungen, die Inquisition, die Ermordung der Indianer. Was ich positiv bei den Muslimen erfahren habe, nämlich die große Gastfreundschaft, ist bei den Christen die Nächstenliebe, die soziale Verantwortung, die UN-Charta der Menschenrechte.

 

Sprechen wir zum Schluss noch über die Liebe.

Nehberg: Ich liebe Annette, meine jetzige Frau! Weil wir uns in jeder Hinsicht ergänzen. Nicht nur in zwischenmenschlicher, sondern auch in der prallen Lebenskreativität. Wir haben mehr Pläne als Restlebenszeit. Heute beginnt der Rest des Lebens! Dessen war ich mir immer bewusst. Ich habe nichts auf die lange Bank geschoben.