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Dieter Wedel: Herr Wedel, geht es auch eine Nummer kleiner?

Was fasziniert Sie an den Open-Air-Festspielen à la August
dem Starken im Zwinger?

Ich finde den Spielort fantastisch und ich habe eine gewisse Erfahrung mit solchen Open-Air-Veranstaltungen. Früher hatte ich die schrecklichsten Erinnerungen mit dramatisierenden, theatralisch herumbrüllenden Schauspielern. Differenzierung oder modernes Theater war da überhaupt nicht möglich. Inzwischen ist es eine Mikroport- Technik, die einem erlaubt, auf einer Riesenbühne mit 2500 Zuschauern so zu reden wie wir jetzt: modern, schnell und direkt. Dabei klingt es auch in der hintersten Reihe nicht nach Mikrofon und nach Lautsprecher, sondern kommt vollkommen trocken und direkt, als ob man die Schauspieler vor sich hat.

 

Ist es die Figur des Sachsenkönigs und dessen Umgang mit Macht, was
Sie an dem Stoff reizt?

Was Macht mit Menschen anstellt, ja. Bei August dem Starken gibt es viele
aktuelle Parallelen zu heute. Zum Beispiel, was eine absolute Macht alles
bewirken kann. Das ist bei August daran zu sehen, wie verheerend sie sich
für die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung auswirkte. Ich kenne
sehr viele Politiker. Manchmal habe ich auch mitbekommen, dass das Amt
den Menschen nicht nur verändert, und zwar in einer rasenden Geschwindigkeit,
sondern dass manchmal das Amt auch den Menschen entkernt, sodass
nur noch das Amt übrig bleibt und der Mann dahinter verschwindet. Und die
Vorsätze und Pläne, die Vorstellung, was man eigentlich mal wollte, plötzlich
unter den Zwängen des Amtes weg sind.

 

Tun Ihnen die Politiker deshalb nicht auch ein wenig leid?
Frau Merkel hat neulich bei einem Abendessen gesagt: Ihr größtes Problem
sei, sie käme nicht mehr zum Nachdenken, weil überhaupt keine Zeit mehr
bliebe. Die einzige Zeit wäre auf der Fahrt von einem Besprechungsort zum
anderen. Das war damals ein Treffen mit Seiteneinsteigern, die in die Politik
gegangen sind. Sie sagten, sie hätten einen unglaublichen Respekt vor Politikern
bekommen, vor der Belastung, wie schwer es ist, Mehrheiten zu beschaffen.
Und sie haben keinen Politiker getroffen, der in diesen Beruf gegangen
ist, um viel Geld zu machen. Da gibt es leichtere Wege.

 


Die Inszenierung im Dresdner Zwinger hat laut Ihren Plänen eine gigantische
Größe angenommen. Sie sind dafür bekannt, dass es immer groß
sein muss. Geht es nicht auch ein bisschen kleiner?

Ja, klar. Ich habe vor etwa zwei Jahren in den Hamburger Kammerspielen ein Stück inszeniert. Die Kammerspiele waren sechs Wochen total ausverkauft.
Das geht auch. Ich würde auch mal einen Film mit drei Personen drehen. Letztens
habe ich einen Film gedreht mit dreißig Schauspielern und ein paar Tausend
Komparsen, ein Riesending. Als ich es schrieb, war es die Geschichte
eines Hochstaplers. Dann war es plötzlich, so wie die Dinge sich entwickelt
hatten, wie eine Beschreibung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation.

Sie haben ein sehr gutes Gespür ...
Ja, es hat einer vom ZDF zu mir gesagt, wenn Sie mal nicht mehr Drehbücher
schreiben, können Sie ja als Nostradamus arbeiten.
Sie haben also dieses gewisse Fingerspitzengefühl für Trends und Entwicklungen?
Ja, das muss man manchmal haben. Wie mit Dresden. Ich denke, so eine Geschichte
könnte spannend sein. Ich habe vor meinem zweiten Treffen hier
Mitarbeiter gebeten, nach Dresden zu fahren und sich wegen der Technik umzusehen.
Die sind angereist, um mir das auszureden, und dann standen die
hier am Zwinger und haben zu mir gesagt: „Herr Wedel, das machen wir, das
ist ja toll.“


Aber?
Sie hatten mich schon vorher gewarnt, dass sich viele Projekte bei uns überschneiden.
Wir haben die Wormser Festspiele, wir hatten diesen großen Film,
wir wollen eine Mallorca-Komödie angehen, wir haben die Geschichte des letzten
Staatszirkus der DDR vor, wir würden gern noch die VW-Affäre machen.
… und dann geht es Ihnen wie Frau Merkel, und Sie haben keine Zeit
mehr zum Nachdenken.

Das wäre ganz verheerend.


Also ist Ihnen Zeit zum Reflektieren immer noch wichtig. Was sind die
Erkenntnisse dieses Nachdenkens?

Zum Beispiel habe ich gelernt, dass es das Problem von Prognosen ist, dass sie
in der Zukunft spielen und in der Regel, Gott sei Dank kann man sagen, nicht
in vollem Umfang oder nur sehr selten zutreffen. Das ist das Spannende am
Leben. Es gibt keine Planungssicherheit.


Braucht man also erst gar keine Pläne zu machen?
Natürlich muss man Dinge planen. Aber letztlich muss man sagen: Ich will das, was ich jetzt gerade tue, so gut machen, wie das irgend geht. Also wenn
das Leben einen Sinn hat, dann den: Das, was man macht, so gut und ernsthaft
zu tun, wie man kann. Sonst wäre es banal.

 

Sie haben einmal gesagt, Sie würden gern Spuren hinterlassen. Wie tief
sind Ihre Spuren im Augenblick, tief genug, um zu bleiben?

Sicherlich nicht. Wissen Sie, jeder Mensch hofft, dass irgendwas von ihm
bleibt. Deswegen zeugt man Kinder. Ich habe beim „Großen Bellheim“ gesagt,
wenn man Bellheim die Kaufhäuser wegnähme, wäre das nicht nur ein
ökonomischer Verlust. Er hat für diese Kaufhäuser gelebt. Wenn man sie ihm
nimmt, ist es, als hätte er nicht gelebt. Wenn heute einer käme und mir sagte:
„Wir stampfen alle Ihre Filme ein, dafür kriegen Sie zehn Millionen!“ …
Wenn meine Filme weg wären, wäre auch ein Stück meines Lebens weg. Aber
Gott sei Dank stellt mich keiner vor diese Alternative.

 

Sie sind im Gegensatz zu anderen in der glücklichen Lage, mit Ihren Filmen
wirklich etwas Bleibendes zu schaffen.

Etwas Bleibendes ... Manchmal bleibt das, was man überhaupt nicht wahrnimmt.
Es gibt einen Bericht von Gerhart Hauptmann, der den Journalisten
Fontane besucht hat. Er hat erzählt, wie sich Frau Fontane darüber lustig gemacht
hat, dass manche Leute die Fortsetzungsromane, die ihr Mann für die
Zeitung schreibt, für Literatur halten. Heute wird Fontane wesentlich häufiger
gelesen als Gerhart Hauptmann, ist uns wesentlich näher und einer der ganz
großen Schriftsteller des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.
Mich mit ihm in einem Atemzug zu nennen wäre vermessen.

 

Wird man Ihre Werke später anders bewerten als heute?
Darüber denke ich nicht nach, aber ich nehme schon etwas wahr. „Der große
Bellheim“ liegt 15 Jahre zurück, und ich habe vor einiger Zeit über einen
Politiker gelesen, der „Der Bellheim von der Saar“ genannt wurde, ohne dass
man erklärte, warum. Der war 70 Jahre alt und geht jetzt wieder in die Politik.
Also sogar 15 Jahre nach der Erstausstrahlung des Films findet man es nicht
nötig zu erklären, was „Bellheim“ ist. Oder der Bellheim-Effekt – das ist ein
fester Begriff, den gibt es sogar im Brockhaus. „Schattenmann“ ist ein Wort
geworden, das in den festen Sprachgebrauch übergegangen ist, das gab es vorher noch nicht.

 

Also ist das Fernsehen doch nicht so flüchtig?
Manchmal nicht. Manchmal ist es aber durch seine eigene Schuld so flüchtig, dass man, wenn man den Apparat ausmacht, schon vergessen hat, was man gesehen hat. Und sehr häufig ist es auch besser, wenn man es gleich vergessen hat.

Klingt, als wären Sie mehr auf der Suche nach Werten und den existenziellen
Fragen des Lebens?

Das ist doch jeder. Wenn ich tot bin, weiß ich, ist da noch was, oder da ist
nichts.


Ist das die Hauptfrage?
Natürlich. Hat das einen Sinn, oder sind wir einfach verloren in endlosen
schwarzen Weiten, in endlosen Welten? Ich glaube, jeder Mensch, der zum
nächtlichen Sternenhimmel aufschaut, fängt an, darüber nachzudenken, ob
da noch was sein könnte. Ich glaube auch nicht, dass wir irgendwelche Antworten
geben können. Aber es ist wichtig, dass man nie aufhört zu fragen.
Ich glaube, auch den Menschen, die immerfort vorm Fernseher sitzen und
Krimis und Fußball sehen, denen wird irgendwann in ihrem Leben mal ein
Verwandter krank, den sie lieben, oder sie selber, und sie sind plötzlich mit
dem Lebensende konfrontiert. Dann werden auch sie fragen: Was ist das, was
bedeutet diese Lebensspanne, wozu bin ich auf der Welt, und wer bin ich? Und
dann ist es schön, wenn man weiß, dass auch andere die Fragen stellen. Das
kann einem der „Tatort“ nicht ersetzen.

Haben Sie schon Antworten auf die Fragen gefunden?
Jeder kann nur Antworten für sich finden. Da gibt es den Papst, der hat die
Antwort für ein paar Millionen Menschen gefunden. Ein paar Mohammedaner
haben das auch getan. Aber mit solchen institutionellen Auslegungen habe ich
meine Probleme. Aber die hat jeder, glaube ich, auch die wütenden Atheisten.
Wenn ich etwas so wütend bestreite, da muss doch was dran sein. Und wenn
man hier die Frauenkirche sieht oder vorm Kölner Dom steht: Etwas, was
Menschen dahin bringt, so etwas zu bauen, ist schon toll. Und ich glaube auch,
wenn Sie Mozarts Stimme hören oder Bach, oder wenn Sie Shakespeare lesen,
oder wenn Sie Bilder von Cezanne sehen oder von Goya, dann ist doch etwas
für den normalen Menschen durchgeschlagen vom Wunder der Schöpfung.
Das ist nicht mit Evolution zu erklären.

Was für Werte sind Ihnen im Leben wichtig?                                               Dass man sich am Lebensende für seine Haltung während des Lebens nicht
allzu sehr schämen muss. Es gibt immer wieder Situationen im Leben, in denen
man sich sagt: Das war nicht toll, wie ich mich da verhalten habe, da habe ich gekniffen, da war ich zu feige, da habe ich vielleicht auch mal jemanden
nicht gestützt, der die Stützung verdient hätte. Aber in der Summe habe ich
versucht, mich anständig zu verhalten. Man muss die Menschen schonen.

Das sagen ausgerechnet Sie? Sie gelten als jemand, der sehr ausdrucksstark
viel von anderen fordert.

Ja. Aber ich glaube, das hat damit nichts zu tun. Schonen heißt nicht, dass ich
sie bei der Arbeit schone oder bei Herausforderungen, sondern dass ich ihnen
im Gegenteil auch mal etwas zumute. Denn unser Beruf hat auch damit zu tun,
dass wir etwas über uns erfahren. Nicht nur über das Stück, auch über uns.
Schauspieler lieben das.

Also fordern und fördern Sie die Leute, mit denen Sie arbeiten?
Das Problem nicht nur an unserem Beruf ist, dass vor lauter Profitinteresse
nur noch das Ergebnis zählt, die Einschaltquote. Dadurch werden immer Antworten
gegeben, bevor man überhaupt angefangen hat zu fragen. Aber es ist
wichtig zu fragen. Und ich ermahne auch immer meine Mitarbeiter, erst mal
die Fragen zu stellen: Warum verhält sich die Figur so, warum sagt der das
jetzt? Wenn man das gleich spielt, dann bleibt das 1:1. Aber plötzlich kommt
man zu ganz erstaunlichen Ergebnissen: Nämlich auch mal zu spielen, was
eine Figur nicht sagt, wo sie lügt, was sie verschweigt, wo sie sich hütet, über
die Beweggründe ihres Handelns Auskunft zu geben. Das mache ich selbst
und fordere es auch von anderen. Das ist auch quälend. Und man erfährt auch
manchmal – und das ist auch ein Risiko – etwas über sich selbst.

Haben Sie viel über sich erfahren?
Ich habe in meinem Beruf sehr viel über mich erfahren. Das ist ja auch eine
Motivation: Ich mache Filme, weil ich mich über etwas ärgere, mich etwas
beunruhigt oder ich mich amüsiere, häufig auch über mich selbst. Und dann
schreibe ich ein Buch, und dann drehe ich das.

Was bewegt Sie zurzeit am meisten?
Offenbar hat die allgemeine Habgier, diese Haltung einer Gesellschaft, die nur
noch nach dem Preis fragt und nicht mehr nach dem Wert, mich dazu geführt,
dass ich diese Geschichte, in der alle hinter dem Geld herjagen, sagenhaften
Gewinn machen und einige in den Abgrund stürzen, erzählen musste. Und ich
bin überzeugt, dass nicht nur Banken die Gesellschaft ökonomisch an einen
Abgrund geführt haben. Ich glaube auch, dass Medien, die immer mehr nur
noch Päckchen verpacken, aber keinen Inhalt mehr haben, auch irgendwann
die Gesellschaft an den Abgrund fahren.

Also sind die Medien schuld?
Ich habe x-mal gehört, auch von Politikern, die gesagt haben: Aber die Einschaltquote
ist so, die Leute wollen das doch so ... Ich meine, wenn öffentlich-rechtliche
Anstalten einen Sinn haben sollen, dafür wird Gebühr gezahlt, dann haben
sie wie ein Staatstheater auch eine Verantwortung für den Zuschauer. Und bei
einem Menschen, der zu faul ist zum Kauen, muss ich doch aufstehen und sagen:
Ich muss dich einmal zum Kauen zwingen. Wenn ich dir dauernd Breichen
bringe, weil du zu faul bist zum Kauen, fallen dir irgendwann die Zähne aus.

Lässt sich der Zuschauer zwingen?
Wir sind für das Gebiss unserer Zuschauer mitverantwortlich. Wir sind in einer
Situation, in der dem Zuschauer das Gebiss wirklich bedenklich wackelt.
Wenn ich sehe, was alles Einschaltquoten hat, dann kann man doch sagen:
Wenn dieser Dreck so viele Zuschauer hat, dann ist es auf keinen Fall ein
Maßstab für Erfolg. Genauso wie wir jetzt wissen, dass die zwanzig Prozent
Rendite, die Ackermann für die Deutsche Bank gefordert hat, für andere Banken
nicht der richtige Weg waren, sondern zu einem verheerenden Zusammenbruch
geführt haben.

Kann unsere Gesellschaft das noch drehen und wenn ja, wie?
In der Geschichte war es immer so: Wenn eine Gesellschaft anfängt, nur noch
sich zu amüsieren, sich nicht mehr mit Problemen auseinanderzusetzen, wurde
es brenzlig. Wenn man nur noch Zerstreuung suchte und Zeit totschlug,
dann sind diese Gesellschaften von den Römern bis zur Weimarer Republik
immer im Abgrund gelandet. Dann kam immer ein Krieg. Und dann kam die
Besinnung. Ich hoffe, der Krieg bleibt uns erspart. Was wir im Moment erleben,
ist ja ein Weltkrieg, nur ohne Kanonen.

Es wird auch ohne Krieg weitergehen ...
Es ist schon eine gewaltige Erschütterung, die es über kurz oder lang geben
wird.


Wie meinen Sie das?
Ich hab jetzt häufig gehört, Unternehmen würden jetzt nur noch auf Sicht fahren.
Also offenbar sind gesellschaftliche Entwicklungen ganz schwer vorauszusehen.
Man weiß es eben nicht.


Nicht mal Herr Nostradamus-Wedel?
Nicht mal ich, und das ist gut so!