- November 25, 2021
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Wie geht Ernährung, ohne den Planeten weiter zu zerstören? Ganz einfach: ohne Lebensmittelverschwendung und pflanzenbasiert. Einfach draufloskochen und -essen war gestern. Doch was darf man eigentlich noch essen, um gesund zu bleiben und gleichzeitig die schwindenden Ressourcen der Erde für uns und unsere Nachkommen zu bewahren? Holger Stromberg zeigt, wie’s geht, und hat dazu ein nachhaltiges Ernährungskonzept parat. Lest mal.
War früher alles besser?
Bis vor siebzig Jahren war es noch kein Problem, richtig zu essen und zu trinken (und gleichzeitig ein gesundes Gewicht zu halten). Heutzutage scheint eine gesunde, ausgewogene Ernährung eine echte Herausforderung zu sein, die die meisten von uns schlichtweg überfordert. Deshalb essen viele Menschen nicht nur mehr als die Generationen vor ihnen, sondern gleichzeitig auch mehr tierische Fette und Proteine sowie stärkereiche Kohlenhydrate – dafür aber weniger Ballaststoffe, Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente. Die Fresswelle, die auf die mageren Nachkriegsjahre folgte, hält bis heute an. Und wir haben die paradoxe Situation einer Überernährung bei gleichzeitigem Nährstoffmangel. Denn das, wovon zu viel gegessen wird, ist dem Stoffwechsel und Antrieb unseres Lebens nicht förderlich.
Ich habe im Laufe der letzten Jahre viele Menschen kennengelernt, die dreimal täglich aufs Laufband steigen, um beim Essen bloß keine Mahlzeit auslassen zu müssen. Das finde ich absurd und eine Verschwendung von Energie sowie von mehr oder auch weniger wertvollen Nahrungsmitteln. Außerdem nimmt jeder Deutsche im Durchschnitt jeden Tag mehrere hundert Kilokalorien (kcal) zu viel zu sich. Das Kalorienplus wird dabei gar nicht richtig wahrgenommen.
In unseren Lebensmitteln sind viele Zucker und ungesunde Fette versteckt, zum Beispiel in Fertiggerichten, Fleisch und Wurstwaren, in Milch- und Weißmehlprodukten, in Limonaden, Süßigkeiten und in alkoholischen Getränken. Auch die Portionsgrößen in Restaurants, in der Kantine und im Lebensmittelhandel haben zugenommen. Dabei funktioniert das „Kleinteller-Prinzip“ tatsächlich: Ein Gericht wirkt auf einem kleineren Teller größer, als wenn es auf einem größeren Teller angerichtet wird. Die mittlerweile in großer Auswahl erhältlichen Single-Fertiggerichte sind ebenfalls mit Augenmaß zu betrachten: Neben einem deutlichen Mehr an benötigten Kalorien sorgen sie ein deutliches Mehr an Müll. Hinzu kommen die allgegenwärtigen ebenfalls für Verführungen durch immer neue Kreationen der Lebensmittelindustrie. Sie sorgen dafür, dass sich mit dem Konsum von sogenannten Lebensmitteln richtig viel Geld verdienen lässt. Gab es in den 1950er-Jahren in Deutschland noch 1.400 verschiedene Lebensmittel zu kaufen, sind es laut dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) heute etwa 160.000. Doch wie soll man sich in diesem Mahlzeiten-Dschungel überhaupt zurechtfinden?
Lebensmittel oder (nur) Nahrungsmittel?
Wenn du denkst, die Begriffe Lebensmittel und Nahrungsmittel würden dasselbe bedeuten, so hast du dich leider getäuscht. Beide eignen sich zwar, um dich zu nähren und am Leben zu erhalten, trotzdem unterscheiden sie sich: Lebensmittel sind immer echt und natürlichen Ursprungs, Nahrungsmittel können auch Erzeugnisse einer kreativen Lebensmittelindustrie sein.
Woran du erkennst, ob das, was du isst, ein wertvolles Lebensmittel ist:
• rein und unverfälscht (achte bei pflanzlichen Lebensmitteln darauf, dass sie nach ökologischen Maßstäben produziert wurden; bei Fleisch erkundige dich nach Herkunft und Haltung; bei Fisch schaue auf der Website von Greenpeace oder vom WWF, welche Sorten man noch bedenkenlos genießen kann)
• energetisch hochwertig (frisch und vitalstoffreich)
• so naturnah wie möglich gewachsen
• sensorisch einwandfrei (hält einer Überprüfung durch gesunde Sinneswahrnehmungen stand)
Woran du erkennst, ob das, was du isst, ein Nahrungsmittel ist:
• sättigend bei gleichzeitig hoher Energiedichte (macht nur satt aufgrund seines hohen Kaloriengehalts, der in der Regel durch Fette und Kohlenhydrate zustande kommt)
• arm an natürlichen Mikronährstoffen (denaturiert und hochverarbeitet)
• ergänzt um chemische Stoff
• sensorisch zweifelhaft (Geschmack, Aussehen und Textur lassen natürliche Ausgangsstoffe nicht oder kaum erkennen)
Schule für die Sinne
In jeder Situation im Alltag strömen Hunderte von Reizen auf unsere Sinnesorgane ein. Wenn du die unterschiedlichen Impulse durch geschärfte Sinne bewusst wahrnehmen kannst, bewertest du besser. Der beste Seismograf beim Einkauf von Lebensmitteln ist deine eigene Wahrnehmung, der bewusste Einsatz deiner Sinne und dein gesunder Menschenverstand.
So kannst du deine Sinne schulen:
Im Dunkeln essen
Schließe beim Essen deine Augen. Konzentriere dich ganz auf den Geschmack des Essens, lass dir beim Kauen Zeit und versuche bewusst, die Textur der Speisen zu erfühlen, das Kaugefühl wahrzunehmen und die verschiedenen Aromen zu schmecken. Die Übung wird noch effektiver, wenn jemand anders gekocht hat und du die verschiedenen Zutaten nicht kennst, sondern erschmecken musst.
Wahres Riechen erlernen
Lasse dir mit verbundenen Augen verschiedene Gewürze oder Kräuter unter die Nase halten und versuche zu erschnuppern, worum es sich handelt. Differenzieren von gleichartigen Lebensmitteln lernst du beispielsweise beim Gegeneinander-Verkosten: Riechen von Olivenölen, von Fischfilets (zum Beispiel Wester Ross Lachsfilet aus Schottland, Wildlachs aus den Eismeeren Alaskas, Bio-Lachs aus Irland und Lachs aus konventionellen Zuchtanlagen) roh und beim Braten, konventionellem Schweinefleisch-Mett gegen Mett von Schweinen aus bio-dynamischer Zucht, echtes Brot aus naturreinen Zutaten und langer Teigführung gegen Brot aus Fertigmix und Schnellproduktion.
Mentales Training
Wissenschaftler an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL) haben herausgefunden, dass man auch durch gezieltes mentales Training seine Sinne schärfen und die eigene Wahrnehmung verbessern kann. Dabei kann es schon ausreichend sein, sich eine bestimmte Sinneswahrnehmung – zum Beispiel den Duft nach frisch gebackenem Brot oder einem Apfelkuchen – intensiv vorzustellen, um die Sinne zu sensibilisieren. Diese Übung funktioniert, weil unsere Wahrnehmung nicht nur auf Sinnesreizen, sondern eben auch auf der Verarbeitung dieser Reize beruht.
Langsam kauen
Kaue jeden Bissen länger und intensiver als sonst. Konzentriere dich darauf, wie sich der Bissen im Mund anfühlt, welche Temperatur er hat, welche Oberfläche. Wie verändert sich der Geschmack, während du kaust?
Fühlen
Wenn du beim Einkaufen bist und vor der Gemüseauslage stehst, schließe die Augen und betaste die verschiedenen Sorten, die vor dir liegen (das kannst du natürlich auch mit mehr Ruhe nach dem Einkauf in deiner Küche machen). Wie fühlt sich die Oberfläche an? Rau oder glatt, nachgebend oder fest? Welche Form hat das Gemüse, wieviel wiegt es wohl in deiner Hand?
Sehen
Sieh dir die Marmorierung von Fleisch oder die lamellenförmigen Streifen beim Fischfilet an. Sie geben dir Auskunft über das Leben des Tieres beziehungsweise seine Aufzucht. Die Lamellen beim Fischfilet sollen wie Baumringe gewachsen sein – durch die Natur beeinflusst, unregelmäßig und dabei kräftig und fest. Ehrliches Fleisch von Tieren hat ebenso eine unregelmäßig-natürliche Marmorierung und unterscheidet sich der Rasse entsprechend. Die Natur schafft nicht Gleichheit, sie schafft Diversität. Das ist auch beim Anblick der vielen verschiedenen Gemüsesorten und Wuchsformen erkennbar (auch wenn der individuelle Charakter durch Massenproduktion und Normierung zunehmend verschwindet).
Schmecken
Du beginnst deinen Tag mit einer Tasse Kaffee oder Tee? Dann nutze die Gelegenheit, um deine Wahrnehmung zu schulen: Trinke schluckweise und mit geschlossenen Augen, behalte den Kaffee oder Tee einige Zeit im Mund und lasse seine Aromen voll wirken. Willst du den Unterschied zwischen bio und konventionell schmecken, dann habe ich folgenden Tipp: Presse getrennt voneinander eine Bio-Zitrone sowie eine konventionelle Zitrone aus, fülle den Saft jeweils in ein Glas und fülle dieses mit reinem, stillem Wasser auf. Verkoste, und ich garantiere: Den Unterschied schmeckst du deutlich! Oder verkoste bewusst Stücke von verschiedenen Apfelsorten und erschmecke die Unterschiede.