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Editorial Herbst 2019

Schon das Wort Krise ist eine Katastrophe. Wie das klingt! Wie ein schrilles Kreischen, wie ein „Krrrr“, das einem im Hals steckt. Dieses lange „iii“, wie etwas unausstehlich Ekliges. Und das „sssssse“ wie eine giftige Schlange. Das Thematisieren von Krisen in den anderen Medien und auch bei fast jedem Menschen hat mich schon lange genervt. Und nun schreibe ich selbst ein Editorial darüber?
Ja, weil es mich aufregt und viele das Wort nutzen, um sich über die Maßen bedauern zu lassen. Eine Krise meint eine schwierige Lage, in der man erst einmal nicht weiß, wie man damit umgehen kann. Das ist nicht angenehm und durchaus anstrengend. Aber das hat man eben ab und zu im Leben. Das Wort kommt aus dem Griechischen (krínein) und steht für „sich trennen“ und meist wird gleich eine Lebenskrise daraus gemacht - etwas Existenzielles. Drama!
Klar, so eine Lebenskrise durchbricht die Routine. Was sich sicher anfühlt, weil es jeden Tag gleich dahin plätschert, hat etwas Beruhigendes. Aber schon, was zu herkömmlichen Krisen gezählt wird, ist doch nicht wirklich existenziell in Deutschland: Trennung vom Partner, Verlust des Arbeitsplatzes, ein leeres Bankkonto. Zugegebenermaßen sind das anstrengende Zeiten und man muss sich selbst sehr disziplinieren, sich nicht zu bedauern, sondern fleißig und tapfer zu sein. Aber wirklich schlimm sind solche Krisen nicht. Anstrengend ja, aber auch lehrreich.
Anders ist es mit dem Verlust der Gesundheit und wenn Menschen sterben. DAS sind Krisen! Wobei mir das Wort an der Stelle schon wieder zu wenig ist. Denn Krisen kann man überwinden. Solche gravierenden Verluste niemals ganz.
Meine Oma ist gestorben. Der letzte Mensch, dem meine Kinder und ich noch eine Karte  aus dem Urlaub schreiben konnten. Der letzte Mensch, dem ich stolz etwas über meine Kinder berichten konnte und den das aus dem Herzen heraus interessierte. Der letzte Mensch, der mich mit einem: „Jammern hilft nicht!“ nach dem Tod meiner Eltern und dem Ärger mit so vielen ehemals nahestehenden Menschen nach vorn geschoben hat.
Nun sind wir amtlich allein.
Ich habe es meinen Kindern noch nicht gesagt. Es gibt einfach keinen passenden Zeitpunkt. Ich beobachte sie und weiß, gleich bricht ihre Welt erneut zusammen. Es sind nur Worte, die ich aussprechen muss. Ich würde meinen Kindern gern alles Leid der Welt ersparen. Aber ich kann nicht.
Und der Spruch eines Bekannten, wir würden auch diese Krise überwinden, hat mich veranlasst, das hier zu schreiben. So ein Schwachsinn! Der Tod eines Menschen, den man wirklich geliebt hat, ist mehr als eine normale Krise. Man wird dadurch nicht stärker. Man überwindet das auch nie. Bei wem das so ist, bei dem war es keine Liebe.
Klar kann man Resilienz lernen. Aber nur für Lapalien.
Ich bin traurig und wütend!
Lieben Sie Ihre Angehörigen und widmen Sie ihnen den größten Teil Ihrer  Aufmerksamkeit und Zeit!

Bitte!

Ihre


Anja K. Fließbach