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Liebe Mami

Liebe Mami,

 

 

ich hätte nicht gedacht, dass ich dieses Jahr ohne Dich überstehen kann. Und es war auch nur ein „Überstehen“. Es war so ein Jahr, das man eigentlich streichen müsste. Aber es ist ja auch nur gut und recht, dass es ein schlimmes Jahr war. Denn Du bist vor einem Jahr gestorben. Was hättest Du von mir gedacht, wenn ich danach gelacht und gefeiert hätte. Aber keine Sorge! Nicht deshalb ging es mir so schlecht. Ich weiß, dass Du nicht gewollt hättest, dass ich so sehr leide. Auch wenn Du, ich weiß es ganz genau, auch nicht gewollt hättest, dass alles einfach so weiter geht. Ohne Dich! 

Es ist ist auch nicht weiter gegangen. Es ist weiter gestrauchelt, geholpert, gerattert – immer wieder mit Aussetzern. Besonders am Anfang habe ich versucht, stark zu sein. Für Deine drei Enkel und für meine Mitarbeiter. Es war so wie betäubt sein und weiter funktionieren. 

Ich erinnere mich genau, als Du heute vor einem Tag früh morgens um vier auf dieser blöden Intensivstation tatsächlich gestorben warst, hat die Schwester zu mir gesagt, ich wäre sehr tapfer gewesen. Aber ich war ja nicht tapfer. Du bist ja gestorben. Du warst tapfer. Seitdem bekomme ich die Bilder von den letzten Tagen und Stunden da nicht aus dem Kopf. Was hätte ich noch mehr tun können? Welchen Professor hätte ich mit welchem Arzt früher zusammenbringen müssen, welche Informationen, die in den vielen Übergaben zwischen wechselnden Dienstärzten (es war Pfingsten) verloren gegangen sind, hätte ich weiter vermitteln müssen? Hätte ich mehr als das eine durchsetzen müssen, dass sie dir das blöde Beatmungsgerät abnehmen? Hätte ich vielleicht vierundzwanzig Stunden da sein müssen die letzten zwei Wochen und nicht immer wieder zwischendurch auf Arbeit oder schlafen gehen sollen? Ich war zwar fast immer da. Aber eben nur fast. Du hast mir ja immer zu verstehen gegeben, dass ich nicht weggehen sollte. Du hattest Angst. Und ich habe Dir so blöde Sachen erzählt von Mitarbeitern und Kindern. Die hätten alle warten können. Aber Mami, ich habe wirklich, wirklich, wirklich nie im Leben dran geglaubt, dass Du sterben würdest. Niemals! Das haben die Schwestern ja auch bis drei Tage vor Deinem Tod immer weit von sich gewiesen. „Daran ist ja bei Ihrer Mutti überhaupt nicht zu denken“, hat die Schwester zu mir gesagt, die Dich die längste Zeit betreut hat. Die, die Dir unbedingt die Haare waschen wollte. Die Haare waschen! Das muss man sich mal vorstellen. Haben die da nichts anderes im Sinn, als so geschundene und sich quälende Patienten mit Haarewaschen zu belasten? Du hast den Kopf geschüttelt. Ich habe es abgelehnt. Und kaum bin ich mal weg und komme wieder, berichtet sie mir auch noch stolz, dass sie es getan hat. Das tut mir so Leid, Mami. Die haben mit Dir gemacht, was sie wollten. Aber ich konnte nicht rund um die Uhr aufpassen! Aber ich und Du wissen, dass das eine Ausrede ist. Ich hätte es natürlich gekonnt. Ich hätte auch da schlafen können. Auch wenn der Herr Zeh, der in Deinem Zimmer lag und immer so laut geschnarcht hat mich als gesunden Menschen schon genervt hätte. Du hättest nie freiwillig neben einem alten Mann geschlafen. Ich habe um ein Einzelzimmer gekämpft. Aber selbst als Du im Sterben lagst, haben Sie das nicht rausgerückt. Eine spanische Wand haben sie zwischen Dich und Herrn Zeh gestellt und ihm gesagt, er solle eine kleine Weile still sein. Ungesagt blieb: Bis Du gestorben bist. 

Du warst dort so ausgeliefert. Das, wovor Du immer solche Angst hattest. Und Du bist auch nicht würdig behandelt wurden. Dass, wars Du immer von Kliniken erzählt hast. Es tut mir so Leid. Wieder und wieder mache ich mir diese Vorwürfe. Erstens denke ich, ich hätte Dich retten können, in dem ich einfach mehr zu den Ärzten gerannt wäre und auf Deine Bedürfnisse, Symptome und Deinen Zustand aufmerksam gemacht hätte. Ich verstehe es auch nicht. Bei Papi ist uns immer was eingefallen. Und den Professoren und Ärzten ist auch immer was eingefallen. Dabei war er doch eigentlich der, der sterbenskrank war. Aber das haben die Ärzte ernster genommen. Deshalb durfte er viel länger leben, als prognostiziert war.

Dich hat irgendwie keiner ernst genommen. Und mich auch nicht, als ich versucht habe, Deine Anliegen durchzusetzen. Ich erinnere mich noch an das letzte Telefonat zwischen mir und Deinem behandelnden Arzt, bevor die Uniklinik Dich erneut übernommen hat. „Wenn Ihre Mutter etwas anderes hat, lade ich sie groß zum Essen ein und gebe richtig einen aus.“ So gern würde ich groß und breit seinen Namen überall hin schreiben. Am liebsten die ganze Stadt plakatieren. Diese Praxis verdient sich mit den teuren Therapien dumm und dämlich egal, ob die Patienten die Krankheit überhaupt haben. Du hattest zumindest eine andere. Ich habe es Schwarz auf Weiß. Klar überlege ich schon das ganze Jahr, dass ich etwas unternehmen müsste. Aber ich hoffe, Du verzeihst mir, dass ich im Moment nicht die Kraft habe auf zermürbende Prozesse, Ärger und Stress. Ich bin da auch wirklich hin- und hergerissen. Auf der einen Seite müsste man diesen Leuten das Handwerk legen und damit auch andere Patienten schützen und dich rächen. Auf der anderen Seite entschuldige ich mich immer vor mir selbst, dass ich auch mich und meine Gesundheit schützen muss. Aber ich weiß nicht, wie Du das sehen würdest. Würdest Du von mir erwarten, dass ich diese Idioten drankriege, die Dich haben sterben lassen? Oder würdest Du sagen, dass ich das ruhen lassen darf? Es würde mich umhauen, wenn ich prozessieren müsste. 

Ich habe nämlich ganz schön an Kraft verloren. Es ist, glaube ich, die Vielzahl der schlimmen Dinge, die zusammenkamen. Auch die vielen Jahre, in denen Papi so krank war und ich immer Angst hatte, dass er sterben würde. Die vielen Krankenhausaufenthalte, die Schmerzen. Und die Veränderung, die mit euch beiden vorgegangen ist. Ihr seid immer so cool und schön und taff gewesen. Es hat mir das Herz zerquetscht, wie Ihr Euch immer mehr verändert habt. Wie Papis Haare alle ausgegangen sind. Wie ich rumgerannt bin, um ihm coole Mützen zu kaufen, die so aussehen, als ob er sie trägt, weil sie toll sind. Sie haben ihm alle nicht gefallen, erinnerst du dich? Zu warm, zu kratzig, zu dick... Ich habe sie bis auf zwei alle zurückgebracht. So war er halt. Wir wissen es.

So ging ja der ganze Mist los. Ich weiß noch, als ich ihn an einem sonnigen Tag damals in meinem offenen Cabrio mit lauter Musik aus dem Krankenhaus abholte. Ich sehe noch genau, wie er da saß, auf der Bank vorm Eingang und auf mich wartete. Und dann, wir fuhren gerade über die Albertbrücke, fragte ich voller Optimismus und der mir damals immer innewohnenden Fröhlichkeit: „Und, alles gut?“ Und ich höre ihn noch ganz genau, wie er mir sagte, dass er wohl sterben müsse. Es hat Jahre gedauert und viele schlimmer Erlebnisse, bis ich das begriffen habe. 

Dass Ihr beide nicht mehr da seid, begreife ich heute immer noch nicht. Und das Ihr so leiden musstet, Jeder für sich, ist eine Scheißungerechtigkeit! Mein Gott! Ein einziges Leben und dann im Verhältnis dazu so viel Leid! Es tut mir so Leid für euch! Es tut mir so Leid!

Der Pfarrer, zu dem ich regelmäßig zur Seelsorge gehe, sagt, dass ich dran denken soll, dass Du es jetzt hinter Dir hast. Er sagt immer: „Aber was ist mit Ihnen?“ Papi hat auch oft gesagt: „Kümmere Dich nicht um die Alten. Kümmere Dich um die Jungen.“ Aber irgendwie habe ich es immer als meine Aufgabe gesehen, mich um alle zu kümmern. 

Dass ich mich nicht um mich gekümmert habe, hat sich noch im letzten Jahr bitter gerächt. Am 20. November habe ich Fieber bekommen. Das war der Anfang von mehr als zwei Monaten blöder Krankheitsgeschichten. Zwei Lungenentzündungen, diese blöde Mykoplasmeninfektion, 11 Tage hohes Fieber, vier verschiedene Antibiotika, nur noch 50 Prozent Lungenfunktion. Die Ärzte dezent beunruhigt. Aber ich wollte nicht ins Krankenhaus. Als es ganz schlimm war und ich viele Nächte nicht schlafen konnte, habe ich gedacht, dass ich nun auch dran sei. Ich hatte richtig Angst.

Aber zum Glück hat mich Deine Nachbarin bildlich von der Straße aufgehoben und mich ins Haus 18 mitgenommen. Dort war ich fast fünf Wochen stationär und anschließend regelmäßig zur Therapie. Da habe ich mich an Dinge aus meiner Kindheit erinnert, über die ich Dich gern befragt hätte. Weißt Du, wie blöd das ist, dass keiner mehr da ist, den ich wegen früher fragen kann? Unsere Familie waren ja nur wir Drei. Du, Papi und ich.

Apropos Familie! Zum Glück hast Du nicht miterlebt, wie die mich alle im Stich gelassen haben. Am Tages Deines Todes, heute vor einem Jahr, waren sie am Telefon noch ganz schockiert, als ich einen nach dem anderen angerufen habe. Aber denkst du vielleicht, dass irgendeiner nach Dresden gekommen wäre, um mir beizustehen? Oder mir mit den Kindern zu helfen? Oder mit Deiner Beisetzung, der Feier, der Trauer oder einfach nur da zu sein. Keiner ist gekommen! Für die Beisetzung haben sie alle nach und nach abgesagt. Stell Dir vor, Mutti, die haben sogar von mir verlangt, dass ich noch ihre Blumen aussuche und ihre Spruchbänder in Auftrag gebe, die in ihrem Namen auf Dein Grab gelegt werden. Nur deine Nichte ist gekommen. Und Deine Schwester ist direkt vom Bahnhof zum Friedhof und direkt von der Trauerfeier mit ihrer Tochter zur Geburtstagsparty deren Sohnes gefahren. Ich hatte den Termin extra auf einen Freitag gelegt, dass Jemand über das Wochenende bei uns bleiben kann. Mami, das hättest Du Dir nie ausmalen können: Es ist kein einziger geblieben. Ich habe direkt darum gebeten. Nichts! Deine beste Freundin ist sogar von der Trauerfeier mit ihrem Mann früher gegangen, weil die Parkuhr abgelaufen ist. Mami, die haben mich so im Stich gelassen! Keiner war da. Bis heute nicht. Und es ist schon ein Jahr her. Sie rufen auch nicht an. Deine Mutti ganz selten. Vielmehr schimpft sie mit mir, wenn ich nicht anrufe. Aber es ging mir wirklich schlecht. Und ich hätte Unterstützung so nötig gehabt. 

Frau Jahr hat gesagt, ich habe sie jetzt mal wieder besucht, dass Familie überbewertet wird. Ich solle mich lieber an meine Freunde halten. Die sind, wenn sie da sind, wenigsten freiwillig mit mir zusammen. Und da haben sich einige wirklich als ganz toll bewährt. Vorallem Conny. Und mein Nachbar Holger. Und natürlich Sylvio, wenn er sich auch mehr um Louisa kümmert, nicht um mich. Aber das hilft ja auch.  

Mit Deinem Grab habe ich ewig rumgemacht. Da hat mich Ulrike sehr unterstützt. Das ist mir aber auch schwer gefallen. Erstmal schon dieser blöde Spruch: „Einen schönen Platz finden.“ Bitte, was soll es denn für einen schönen Platz für ein Grab geben? Was ist daran schön? Ich habe dann den Striesener Friedhof ausgesucht. Dein Grab zieren hinten zwei zypressenähnliche Bäume und der Stein ist wirklich schön. Ich habe italienischen Kalkstein genommen, der ist ganz hell, aber wittert nicht wie Sandstein. Vorn ist er halb rund und hinten läuft er wie ein Dreieck zu. Der Steinmetz hatte Dich übrigens gekannt. Sein Sohn war in eine Deiner Klassen gegangen. Der Stein ist schmal und hoch und passt genau zwischen die Bäumchen. Ich hoffe so sehr, dass es Dir gefallen würde. Blumen sind auch endlich drauf gepflanzt und die Einfassung ist aus Sandstein gemacht. Ich dachte, dass es da unten nicht so schlimm ist. Manchmal frage ich mich, ob Du da nicht doch irgendwie drauf gucken kannst und ich das hier ganz umsonst beschreibe. Meistens allerdings habe ich in diesem Jahr gedacht, gut, dass Du es nicht sehen konntest. Es gab noch so viel Sch... nebenher. Die SV-Prüfung läuft immer noch, ja, immer noch. Nun schon 1,5 Jahre. Den Rechtsstreit mit der Frau, die den Papi kurz vor seinem Tod heimlich geheiratet hat, habe ich beendet, bevor ich in die Klinik bin. Soll sie sich doch auf irgendeiner Südseeinsel  sonnen. Ich habe von Euch gelernt zu arbeiten. Das ist viel mehr wert. Und meine Gesundheit erstrecht.

Oma Annie ist übrigens auch gestorben. Gleich dann im September. Da war ich dann in der zweiten doofen Erbengemeinschaft und zum dritten Mal auf dem Nachlassgericht bei der Rechtspflegerin für „F“. Das dritte Mal Fließbach in einem Jahr.  Tante X, mit der ich dann da hin musste, war so pietätvoll mir das Klingelschild von Opa und Omas Tür zu geben, weil ich ja jetzt die letzte Fließbach sei. Super! So ist sie. Ob ich sonst was von Oma wolle, hat sie mich anstandshalber gefragt, aber auch gleich gesagt, dass sowieso alles entsorgt wird. Na, das kannst du Dir bestimmt alles bildlich ausmalen. Sollen doch alle glücklich werden!

 

 

Ich würde auch gern wieder glücklich werden und ich hoffe sehr, Du erlaubst mir das. Ich bin nun mal hier und würde auch gern noch was von meinem Leben haben. Ich hoffe sehr, Du gönnst mir das trotz Deiner Leiden und trotz, dass Du gestorben bist.

 

 

Deine Wohnung habe ich übrigens gekauft. Dein alter Vermieter aus dem Westen hat zwar den Preis echt nach oben getrieben, weil er gemerkt hat, dass ich die Wohnung unbedingt haben wollte. Er musste ja nicht verkaufen. Aber so musste ich wenigstens Deine Möbel nicht verkaufen oder gar auf den Müll bringen. Deine schönen Möbel! Das hättest Du mir wirklich nicht verziehen. Die sind ja alle noch gut. Ich habe ja jetzt immer noch ein schlechtes Gewissen, wenn Leute in der Wohnung sind und die Schuhe nicht ausziehen. Ich höre immer noch Deine Stimme, wie Du schimpfen würdest. Aber perspektivisch muss ich die Wohnung dann schon mal fest vermieten. Es hilft ja nichts. Aber mit Möbeln. Oder wäre Dir das gerade nicht Recht? Es ist aber auch ein Dilemma, wenn ich mir nicht sicher bin, was Du wölltest.  Der Seelsorger meint, dass die Möbel ja jetzt mir gehören würden und ich damit machen könnte, was ich will. So ein Quatsch! Es sind Deine! Alles, was Deins war bleibt Deins.

 

 

Tja, du siehst.: Selbst nach einem Jahr schreibe ich noch so, als ob Du eben erst gestorben wärest. Auf der einen Seite kommt es mir auch so vor. Auf der anderen Seite ist es schon eine gefühlte Ewigkeit her, dass Du da warst.

 

 

Liebe, liebe Mami! Ich hoffe so sehr, Du nimmst mir die ganzen Sachen nicht übel. Dass ich keine Lösung für Deine Krankheit gefunden habe, dass ich die Ärzte nicht überzeugen konnte, die Schwestern nicht klar von verschiedenen Dingen ferngehalten habe (Sie haben Dir einfach Deine schönen, roten Fingernägel ablackiert auf der Intensivstation. Diese Schwester, die sich um dich „gekümmert“ hat.) Dass ich nun Deine Sachen habe. Dass ich trotzdem meistens, wenn ich von Deinem Tod rede, auch von Papis spreche. Dass ich nicht weiter um Dein Recht und um meins gekämpft habe gegen diese Frau. Dass ich mich auch sonst nicht weiter gewährt habe. Dass das mit dem Friedhof so lange gedauert hat. Dass ich nicht so oft da bin.

 

 

Zum Schluss noch ein paar Worte zu Deinen Enkeln. Sie reden oft von Dir. Auch der Kleine. Manchmal fängt einer aus heiterem Himmel an, von Dir zu erzählen, Fragen zu stellen. So kleine Menschen, aber trotzdem! Der Große kommt im August in die Schule. Und du bist nicht dabei! Louisa hatte letzte Woche Jungendweihe. Und du warst nicht dabei! Du warst auch Weihnachten nicht da, Ostern, zu den Geburtstagen. Auch da war übrigens nie Jemand von der Familie da. Nicht mal zur Jugendweihe. Stell Dir das mal vor! Das hättest Du nie gedacht, oder? Ich auch nicht.

 

 

Ich sitze gerade vor der Redaktion auf unseren tollen Lounge-Möbeln. Es ist abends und auch langsam kalt. Alle Mitarbeiter sind schon los. Es läuft übrigens alles gut mit Disy. Es macht Spaß, mit allen zu arbeiten. Zum Glück!

 

 

Ich werde jetzt aufhören. Sicher habe ich viel vergessen, aber das kann ich Dir ja mal auf dem Friedhof erzählen.

 

 

Ich habe Dich so, so , so doll lieb und Du fehlst mir unsagbar!

 

 

Deine Disy