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Sexuelle Orientierung und Psychotherapie

Von Dr. med. Gernot Langs

 

Eine Vielfalt der Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten hat es zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben. Der Begriff derHomosexualität wurde erstmals von K.M. Kertbeny 1868 verwendet  und erfuhr durch R. v. Krafft-Ebing in dessen Werk „Psychopathia sexualis“ (1886) seine Verbreitung. Wissenschaftlichen Debatten und Theorien um „Homo- und Heterosexualität“ (als Antonym zur „Homosexualität“) begannen erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Bekannte Namen sind neben Kertbeny undKrafft-Ebing zum Beispiel C. Westphal oder K.H. Ulrichs, der den  Begriff des „Uranismus“ prägte. Die Medikalisierung der Homosexualität durch vor allem Krafft-Ebing war ein Versuch, diese aus dem Strafrecht zu nehmen. Der Versuch scheiterte: Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurde in der Psychiatrie Homosexualität als eine Form der Perversion und/oder Entwicklungsstörung angesehen. Und der Paragraf 175 bestand bis 1994. 

Differenziertere und nicht pathologisierende Betrachtungsweisen von Homosexualität entwickelten sich erst infolge der sogenannten Kinsey-Studien. Homosexualität als (psychiatrische) Diagnose wurde 1973 aus der DSM- und 1991/92 aus der ICD-Klassifikation gestrichen. Heute zählen Hetero-, Bi- und Homosexualitäten gleichermaßen zu den natürlichen sexuellen Orientierungen. Auch wenn bei den meisten ÄrztInnen und TherapeutInnen Konsens darüber besteht, dass Homosexualität keine Erkrankung ist, ist bei vielen eine große Verunsicherung und Ambivalenz gegenüber nonkonformen sexuellen und geschlechtlichen Identitäten bekannt. Ein Grund dafür mag sein, dass ein offener und nachhaltiger Diskurs über Ursachen, Auswirkungen und Definitionen sexueller Orientierungen vor allem im deutschsprachigen Raum nach der offiziellen „Entpathologisierung“ zum Erliegen gekommen ist. Nicht pathologisierende Entwicklungstheorien und neuere Erkenntnisse zur sexuellen Orientierung, die einen wertfreien und professionellen Umgang mit Menschen mit homo- oder bisexueller Orientierung ermöglichen und deren spezifischen Bedarf im therapeutischen Setting erkennbar machen, finden in der Lehre kaum Beachtung. Dies ist kontraproduktiv für den psychiatrischen und psychotherapeutischen Kontakt. Symptome, Erkrankungen und Probleme, die homosexuelle Menschen motivieren, psychotherapeutische Hilfe aufzusuchen, unterscheiden sich nicht von „Nicht-LG-Menschen“. Durch direkte oder indirekt erfahrene Diskriminierung im Sinne des „minority stress“ findet sich jedoch eine höhere Prävalenz psychischer Störungen bei LGBT-Menschen: Dazu zählen in erster Linie affektive Störungen, Angststörungen und Substanzmissbrauch, zudem besteht eine dreifach erhöhte Suizidrate bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit homo- oder bisexueller Orientierung. In der Konsequenz wurden sogenannte „gay affirmative therapies“ entwickelt, deren Ziele unter anderem die Akzeptanz der sexuellen Orientierung und die Entwicklung von Resilienzfaktoren gegenüber externen (sozialen) Stressoren sind. Die HIV-Infektionsrate ist in den letzten Jahren konstant geblieben (circa 3 200 Neuinfektionen pro Jahr). Durch die ausgesprochen guten Behandlungsmöglichkeiten auf Grundlage der antiretroviralen Therapie (ART) hat sich die Lebenszeit HIV-positiver Menschen deutlich verlängert (zur Erinnerung: Bis 1996 war AIDS ein Todesurteil). Das bedingt, dass die Prävalenzrate zunimmt. 2016 waren in Deutschland über 84 000 Menschen HIV-positiv. Hauptbetroffenengruppe in Deutschland (im Gegensatz zu zum Beispiel Ländern der Subsahara) sind weiterhin „MSM“ (Männer, die Sex mit Männern haben). Diese sehen sich nun der „Gefahr“ einer doppelten Diskriminierung/Stigmatisierung gegenüber: „schwul und positiv“. Homosexuelle positive Männer suchen aus unterschiedlichsten Gründen einen Psychotherapeuten auf, einer davon kann der Umgang mit der Infektion sein. Von AIDS-Hilfen wurde berichtet, dass sie von Therapeuten immer wieder hören, dass diese sich scheuen würden, mit HIV-Patienten zu arbeiten. Nicht aus Gründen der „Diskriminierung“, sondern weil sie es sich „nicht zutrauen würden“.