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Psychosoziale und psychosomatische Aspekte der Adipositaschirurgie

Von Prof. Dr. med. Martina de Zwaan

 

Konservative Therapiemaßnahmen sind bei schwer adipösen Patienten (Grad 3) äußerst selten erfolgreich, sodass adipositaschirurgische Optionen als die bislang einzigen Gewichtsreduktionsverfahren mit mittel- und langfristigem Erfolg in Betracht gezogen werden müssen. Die erhöhte organische und psychische Morbidität und die deutlich erhöhte Mortalität bei schwerer Adipositas machen effektive Maßnahmen zur Gewichtsreduktion nötig. Als traditionelle Indikationsstellung für bariatrische Operationen gilt ein Body-Mass-Index (BMI) von über 40 kg/m2 oder von über 35 kg/m2 mit Adipositas-assoziierten Begleiterkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2 oder kardiovaskulären Erkrankungen. Bariatrische Operationen erfordern jedoch eine lebenslange Anpassung der Lebensführung (zum Beispiel Essverhalten, Substitution von Vitaminen und Spurenelementen) und eine lebenslange Nachsorge. 

Patienten vor Adipositaschirurgie leiden an einer erhöhten psychischen Komorbidität, vor allem an Depressionen, Angststörungen und Binge-Eating-Störung. Es wird davon ausgegangen, dass die Lebensqualität bei schwer adipösen Menschen nicht nur aufgrund der körperlichen, sondern auch der psychischen Begleiterkrankungen eingeschränkt ist. Nach Adipositaschirurgie verbessern sich in der Regel die depressive Symptomatik und die Lebensqualität kurz- bis mittelfristig („Honeymoon-Phase“). Langfristig tritt die psychische Komorbidität wieder auf. Es gibt zudem Hinweise, dass die Inzidenz von selbstschädigendem Verhalten und von Suiziden postoperativ zunimmt. Ob und welche ätiologische Verbindung zur bariatrischen Operation besteht, ist jedoch unklar. Auch problematischer Alkoholkonsum kann nach Magenbypass langfristig zunehmen. Präoperative Essanfälle stellen einen Prädiktor für das postoperative Auftreten von sogenanntem „LOC Eating“ dar. Bei postoperativem „LOC Eating“ handelt es sich in der Regel um ein Korrelat der präoperativen Essanfälle, die aufgrund der anatomischen Veränderungen nicht mehr möglich sind. Postoperative Depression und postoperatives auffälliges Essverhalten sind negativ mit dem postoperativen Gewichtsverlauf assoziiert. Eine operative Maßnahme zur Gewichtsreduktion erfordert daher leitliniengerecht eine vorhergehende interdisziplinäre Stellungnahme, dies schließt einen möglichst in der Therapie der Adipositas tätigen Mental Health Professional (MHP) mit ein. Die Rolle des MHP liegt sicherlich in der Evaluation vor und, falls erforderlich, in der Begleitung des Patienten nach der Operation. Weniger die „Gatekeeper“- Funktion steht im Vordergrund, sondern die Frage, wie das Operationsergebnis nicht nur im Hinblick auf den Gewichtsverlauf, sondern die Lebensqualität optimiert werden kann. Psychische Erkrankungen, Binge-Eating-Störung oder kindliche Missbrauchserfahrung stellen dabei keine generelle Kontraindikation gegen bariatrische Maßnahmen dar. Patienten sollen nicht einem Eingriff unterzogen werden, wenn folgende Kontraindikationen bestehen: 

 

• instabile psychopathologische Zustände, 

• aktive Substanzabhängigkeit, 

• eine unbehandelte Bulimia nervosa. 

 

Können die als Kontraindikationen genannten Erkrankungen und Zustände erfolgreich behandelt werden oder können die psychopathologischen Zustände in einen stabilen Zustand überführt werden, sollte eine Re-Evaluation erfolgen. Zusätzliche behaviorale Interventionen können den postoperativen Gewichtsverlauf positiv beeinflussen. Es gibt Hinweise, dass die Wirkung bei depressiven Patienten ausgeprägter ist. Dosisanpassungen von Psychopharmaka müssen gegebenenfalls durchgeführt werden.