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Von feuerspuckenden Nachbarn, bärigen Prachtkerlen und Wodka „41Region“
Russlands wilder Osten: Das Unterwegssein auf Kamtschatka ist auch heute noch ein Abenteuer - vor allem dank der ungezähmten Natur.
Kamtschatka ist von Deutschland etwa genauso weit weg wie die Nordküste Australiens. Und in Russlands Schulen bekommt der Schüler, wenn er wegen irgendetwas bestraft wird, zu hören: „Do Kamtschatki!“ Will heißen: ab in die letzte Bankreihe! Genau da liegt Kamtschatka, im äußersten Osten Russlands. Eben ganz hinten. Alle Reisen auf Kamtschatka starten und enden in Petropawlowsk Kamtschatski. Seinen Namen verdankt der Ort Vitus Bering. Der Marineoffizier und Entdecker dänischer Herkunft, in russischen Diensten stehend, überwinterte während der Zweiten Kamtschatka-Expedition 1740 in der Awatscha-Bucht und gründete eine Siedlung, die er nach seinen Schiffen „Svjatoi Pjotr“ (St. Peter) und „Svjatoi Pavel“ (St. Paul) nannte. Noch heute erinnern Denkmäler in der Stadt daran. Rund 200.000 Menschen leben im herrlich gelegenen Petropawlowsk Kamtschatski, das so schöne wie gefährliche Nachbarn hat: Es wird von mehreren aktiven Vulkanen eingerahmt. Hausberg ist der Awatschinski, nur 15 km Luftlinie von Petropawlowsk entfernt, der als einer der am besten erforschten Vulkane der Welt gilt - die Wissenschaftler haben’s ja nicht weit. Sie können quasi vom Dach des Vulkanologischen Instituts aus ihr Studienobjekt beobachten. Der Awatschinski ist aktiv und stellt damit eine gewisse Gefahr für die Stadt dar. Nebenan steht der noch viel wildere Korjakski. Langweilig wird den Forschern also mit Sicherheit nicht. Schließlich sind 29 der gut 160 Vulkane auf der Halbinsel aktiv. Der Grund hierfür sind gewaltige Kräfte im Erdinnern - die Pazifische Erdplatte schiebt sich tief unter Kamtschatka mit einer Geschwindigkeit von mehreren Zentimetern pro Jahr unter den Rand der Eurasischen Platte. Wer es gern anschaulich mag, kann im Vulkan Mutnowski eine erdgeschichtliche Zeitreise von mehreren Millionen Jahren unternehmen. An einem einzigen Tag. Bis zum Fuß des Vulkans fährt der Allradbus über Blocklavaströme und Schneefelder. Dann beginnt der Fußmarsch. Der Mutnowski (2.323m) ist ein Vulkan mit mehreren Kratern; man kann von Krater zu Krater laufen. Über eine Bresche in der Kraterwand betritt man das Innere, in dem aus Öffnungen im Gletscher gewaltige Wasserdampfsäulen emporsteigen. Der Weg führt tief in diese von Feuer und Eis gestaltete Welt hinein, zu Fumarolenfeldern, zu rotbraunen Seen mineralischer Ablagerungen und zu Schlammvulkanen. Man sieht riesige Gletscher, direkt neben dem Eis kochende Pools. Überall zischt und knallt es. Den grandiosen Abschluss bildet ein Kratersee, in dessen schwefelsäurehaltiges türkisfarbenes Wasser eine 200 m hohe Gletscherwand kalbt. Natürlich sind auf Kamtschatka auch viele weitere Vulkantouren möglich: Aufstiege auf den Awatschinski oder Trekking um den Tolbatschik und sogar eine Expedition auf die Kljutschewskaja Sopka, kurz Kljutschewski, mit ca. 5.000 m (wächst mit jedem Ausbruch) der höchste Stratovulkan der Erde. Er ist der unbestrittene Star Kamtschatkas und mit seinem fast perfekten, 3.000 m hohen Kegel auch optisch eine Pracht. Prachtkerle anderer Art trifft man ebenfalls: Kamtschatka-Braunbären. Ursus arctos piscator - das Wörtchen „piscator“ verrät seine Vorliebe fürs Fischen - ist mit einer Kopf-Rumpf-Länge von 2,50 m und bis zu 600 kg Gewicht fast so gewaltig wie der Kodiak-Bär, der größte Bär der Welt. Ihm zu begegnen ist ein unglaublich intensives Erlebnis - vor allem dann, wenn man auf B.renmütter mit ihren Jungen trifft. Die Jungtiere bleiben zwei bis drei Jahre bei der Mutter, und diese hütet den Nachwuchs wie ihren Augapfel. Ansonsten sind die Bären Einzelgänger; nur zur Paarung kommen sie einander näher. Die schwerfälligen Bären sind reviertreue Gewohnheitstiere, die immer wieder dorthin zurückkehren, wo sie Futter gefunden haben, und das auf immer gleichen Wegen, uralten Bärenpfaden. Die Raubtiere haben eine unheimlich gute Nase und eher schlechte Augen - das spiegelt sich auch im Bärengesicht wider, das zum größten Teil aus Nase zu bestehen scheint. Leider nimmt die Zahl der Braunbären auf Kamtschatka ab. Wilderer dezimieren die Bestände - und mit den Lachsen auch eine der Nahrungsgrundlagen der Bären. Am Kurilensee lassen sich die Bären am besten beobachten. Hier tummeln sich zur Laichzeit mehrere Millionen Lachse - die Fische sind ein Fest für die Bären, die Bären sind ein Fest für Naturfans und Fotografen. In ihrem Bestreben, sich eine möglichst dicke Fettschicht für den Winter anzufressen, sind die Bären so auf den Lachs fixiert, dass sie sich kaum um Besucher oder klickende Kameras kümmern - begeisternde Bedingungen zum Fotografieren, Erleben und Staunen. Man kann sich den Tieren bis auf wenige Meter nähern, sie sehen, hören und riechen, ihr Wesen und ihre Kraft erspüren. Dennoch ist oberste Vorsicht geboten. Nicht umsonst ist immer ein erfahrener bewaffneter Inspektor, ein Ranger, dabei. Zum Kurilensee gelangt man entweder per Helikopter (wetterabhängig) oder in einer zweitägigen Fahrt über unbefestigte Straßen (sitzfleischabhängig). Auf Kamtschatka sind praktisch alle Verbindungen zwischen den Siedlungen Schotter- oder Aschepisten. Fahrzeuge der Wahl: Lkws mit großer Bodenfreiheit wie Ural, Gas, Sil oder Kamas. Sie sind unverwüstlich, russisch robust und gemeinsam mit ihren furchtlosen Fahrern eine unzerstörbare Waffe im Kampf gegen metertiefe Pfützen, Schlammlöcher, dichtes Taigagestrüpp, Aschefelder, wilde Flüsse... Gegen eines helfen allerdings auch sie nur bedingt: Mücken. Gerade in den Sommermonaten ist man auf ein über den Kopf zu ziehendes Moskitonetz angewiesen, das am besten in der Hosentasche greifbar mitreist. Wer nach Kamtschatka will, sollte außerdem dafür sorgen, dass Mensch und Technik wasserdicht verpackt sind - für Tage im Regen, fürs Durchwaten von Bächen oder Sümpfen. Vom Wasser zum Wässerchen: Bei Russlandreisen gehört das Wodkatrinken zum absoluten Muss. Zum Glück ist Kamtschatkas Wodka, „41Region“ genannt, eine der besten russischen Marken. Die Zahl 41 ist das Kfz-Kennzeichen der Halbinsel. Tipp: niemals mit einem Russen allein einen Wodka trinken. Denn die Flasche muss geleert werden...
Stefan Hilger, Sandra Petrowitz