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Editorial Sommer 2017
Lieber Papi,
Helmut Kohl ist vor drei Stunden gestorben. Jetzt ist er auch tot. So wie Du. Ich musste sogar ein bisschen weinen. Da ist ein Mensch, der so mutig und selbstbewusst im Leben steht, so viel gelernt und studiert hat, so viel gewollt und erreicht hat, so mutig war und dann... Ein Sturz und ein Schädelhirntrauma machten ihn zu einem Menschen, wie man selbst nicht gesehen werden möchte - im Alter. Wie anfällig Menschen sind! Selbst so große, starke und mutige Männer wie Kohl. Und wie Du. Du warst auch mutig, als Du damals jeden Montag auf die Straße gegangen bist. Mutti und ich hatten immer große Angst um Dich. Aber Du hast gesagt, man muss das machen. Du bist damals auch mit den anderen zum Bahnhof gezogen, als die Züge aus Prag durch Dresden gefahren sind und Du warst dabei, als Helmut Kohl in Dresden an der Frauenkirche von Wiedervereinigung sprach. Du hast mir oft erklärt, dass er und Genscher uns die Freiheit bringen würden.
Und Du hattest Recht! Nun ist er tot. Und Du auch und Mutti auch. Und die Freiheit?
Ich glaube, es geht wieder rückwärts. Einigen wird gedroht, suspendiert zu werden, wenn sie ihre Meinung in Demonstrationen kundtun. Unabhängig für was sie demonstrieren, man darf ihnen deswegen nicht drohen. Am Telefon ertappe ich mich oft, bei Schlüsselworte – man unterhält sich schließlich über das Zeitgeschehen – zu stoppen, ob da nicht ein Computer seine Aufzeichnung beginnen könnte. Weißt Du noch, wir haben früher immer das Klicken gehört. Du hast gelacht, dass die Stasi ihre alten Aufnahmegeräte nicht geräuschloser hinbekommen hat. Ich weiß auch noch, wie ängstlich ich war, wenn wir wieder Schmuggelware über die tschechoslowakische Grenze hin- und hergefahren haben. Devisen, Zeitungen mit diversen Inhalten, Magnetband-Kassetten. Wir haben uns immer in Ústí, manchmal in Bratislava und oft in Ungarn mit Deinen vielen Freunden aus dem Westen getroffen. Ich sollte die Grenzer immer fröhlich anlächeln, so als kleines Kind mit Zöpfen, meintest Du.
Und als Du gestorben warst, habe ich Deinen Abschiedsbrief an mich gefunden und den an Mutti, als Du Dich vor Deinem Besuch bei Tante Elfriede im Westen entschlossen hattest, uns zu verlassen und drüben zu bleiben. Abzuhauen. In den Westen. Du hast nie darüber gesprochen und Du bist auch immer zurückgekommen. Ich war erschrocken, als ich den Brief vor ein paar Monaten in Muttis Nachlass gefunden habe. Ein Abschiedsbrief, der in dem Moment doppelte Bedeutung hatte.
Ich habe übrigens erst kürzlich mit dem Stasi-Mann gesprochen, der mir erzählt hat, wie sie Dich damals erpresst haben, dass Du nichts unternimmst wegen der Sache mit mir. Ich nehme es Dir nur ein bisschen übel. Nein, das stimmt nicht. Hättest Du nicht trotzdem...? Du hättest ihn sehen sollen wie er da stand, der Stasi-Mann, bei mir „zu Besuch“ in der Redaktion. Er war bei seinen Erzählungen durchaus fröhlich.
Jetzt ist Kohl tot. Und Du. Und Mutti.
Und Louisa hat in der Schule eine Projektarbeit geschrieben zum Thema Telefonseelsorge in der DDR. Ich war mit allen drei Kindern in Bautzen, habe ihnen das Stasi-Gefängnis gezeigt – das ist jetzt Museum. Sie sind jetzt alt genug. Deine und Muttis Stasi-Akte habe ich auch beantragt. Ich hätte aber nur das Recht auf die Passagen, die auch mich betreffen. Und ich habe ein Interview mit Gysi gedruckt. Ich weiß! Sorry! Aber auch das gehört zur Freiheit.
Ich bin wirklich traurig wegen Helmut Kohl!
Deine Disy