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Bye bye - Abschied von der "MS Astor"

Eine Weltreise geht zu Ende

Auch fünf Monate sind irgendwann zu Ende. Auch die ganze Welt ist irgendwann umrundet. Alles ist zu Ende, irgendwann. Es gibt Dinge, die man schnell vergisst, Erlebnisse, die eine Weile „nachhängen“, Abschiede, die wehtun. Dann gibt es aber auch Ereignisse, die einen verändern. Begegnungen, die einen für das ganze Leben fesseln. Eine Reise, die die persönliche Zukunft, den Menschen für immer prägt: So war meine Weltreise auf der „MS Astor“. Fünf Monate haben wir gebraucht, sind mit dem Schiff mit 30 km/h über 60 000 km gefahren. Wir haben alle fünf Kontinente besucht. Höhepunkte in Rio, Sydney, der Südsee, Kapstadt und Argentinien. Aber auch tausend andere Highlights. Verschiedene Sprachen, Kulturen, Religionen. Einmalige Landschaften und beeindruckende Menschen. Freunde auf Zeit und Gefährten fürs Leben. Etwas, das bleibt – für immer!

 

Tango, Samba und Temperament

Wir gehen durch verwinkelte Gänge und hohe Flure, ein golden vergitterter  Fahrstuhl bringt uns in ein höheres Stockwerk. Ein kleiner Mann mit weißem Haar zeigt uns den Weg. Auf dem nächsten Treppenabsatz binden sich die Männer Krawatten um, Mabelle und ich ziehen die neuen hohen Tangoschuhe an, die wir eine Stunde zuvor in einem zum Shop umgewandelten Wohnzimmer (Hinterhof, fotografieren verboten) gekauft haben.

Mabelle flüstert mit den Türstehern ein paar Worte auf Spanisch und dann sind wir drin, in der Tangoszene von Buenos Aires, im Club Espaniol. Auf unserer Weltreise mit der MS Astor haben wir viele interessante Orte gesehen, schöne Städte, imposante Landschaften. Doch es gibt drei oder vier Highlights, die einfach besonders sind. Liegt es an den Menschen, mit denen wir unterwegs sind, an den Erlebnissen, die wir haben? Buenos Aires, die Stadt des Tango, ist ein solcher Höhepunkt. Die Stadt hat Feuer, Leidenschaft, Energie, Rhythmus, so wie der Tanz. Schon Wochen zuvor haben uns das Tanzpaar Mabelle und Michael auf der Astor beim Tango-Argentino-Kurs eingestimmt. Als ich nun mit geschlossenen Augen zwischen und mit den einheimischen Menschen den Tango lebe, bin ich eine von ihnen.

Mehr als 13 Millionen Menschen leben im Großraum Buenos Aires, direkt in der argentinischen Hauptstadt am Rio de la Plata (Silberfluss) wohnen 3 Millionen. Wir schlendern auf der breitesten Straße der Welt, der Avenida 9 de Julio, entlang, laufen über schattige Avenidas, durchs bunte Künstlerviertel La Boca, sitzen in Straßencafés und schauen den Menschen zu, die in bunten Kleidern auf der Straße Tango tanzen. Schwupp. Werde ich herumgewirbelt. Zack. Zack. Aus jedem Laden, aus jedem Restaurant, auf jeder Straße ertönt Tangomusik. Mir wird schwindelig. Die Menschen tanzen. Manche nur ein paar Schritte auf dem Weg zum Büro, manche zwischen zwei Tassen Café und einige eben im Club Espaniol, mitten am Tag im Anzug und Tangokleid zwischen 3 und 6 Uhr nachmittags.

Nach dem Club gehen wir in einer der zehn verkehrsfreien Häuserreihen zwischen der Plaza de Mayo und der Calle Florida günstig argentinische Lederjacken und CDs mit …, richtig, Tangomusik, einkaufen. Dann fährt uns der Lederladenbesitzer zum Inrestaurant „Caballeria“ im Puerto Madero. Wir werden an der Schlange der wartenden Einheimischen vorbeigeführt und von unseren Freunden, Künstlern und Crewmitgliedern vom Schiff, jubelnd empfangen. Ein Ausflug in ein anderes Leben, ein Tag erlebnisreich wie ein Monat. Um 23 Uhr legt die MS Astor ab und schon am nächsten Tag sind wir in Montevideo, der Hauptstadt Uruguays.

Das südamerikanische Temperament lodert auch hier, in dem Land, das eingezwängt zwischen Brasilien und Argentinien jahrhundertelang um seine Unabhängigkeit kämpfen musste. Erst sind wir auf dem Weg zu den Gauchos. Die „Cowboys“ Südamerikas leben auf großen Farmen, die sie zu Pferde und mit Traktoren bewirtschaften, mit Lassos Kühe einfangen und mate (Tee) und ginebra (Gin) trinken. Montevideo selbst ist eine moderne, europäisch anmutende Großstadt mit der höchsten Bildungs- und der niedrigsten Kriminalitätsrate Südamerikas. Von der Plaza Independencia aus spazieren wir an Springbrunnen, Unabhängigkeitsdenkmalen und kolonialen Bauten vorbei, kaufen edle, farbige Kleider, essen am Abend in einem gemütlichen Restaurant auf dem Grill gebratenes Rindfleisch.

Drei Seetage später laufen wir in Rio de Janeiro ein. Nach durchfeierter Abschiedsnacht (Passagier- und Künstlerwechsel für die, die nur etappenweise auf dem Schiff sind) stehen wir morgens um 7.30 Uhr mit Sekt an Deck und genießen die Einfahrt in die Guanabara-Bucht mit Zuckerhut und Corcovado. Zum Schlafen ist keine Zeit. Wir fahren mit der Schweizer Zahnradbahn durch den tropischen „Tijuca“-Regenwald zum 715 m hohen Corcovado („Buckelberg“) und besuchen die 38 m hohe Christusstatue (1145 t), die der französische Bildhauer Paul Landowski 1931 fertig gestellt hat. Nach einer Stadtrundfahrt und einem Besuch beim weltberühmten Juwelier Stern kommen wir um einen Caipirinha am 4,5 km langen Strand „Copacabana“ nicht herum. Ein Strand mit Cafés, Bars, Musikbühnen, wo am Wochenende zehntausende Brasilianer kostenlos Konzerte und Partys besuchen, der nachts von Flutlicht erhellt wird und wo die Marktstände abends ab 18 Uhr gerade mal aufgebaut werden. Wir sehen viele von Scheinwerfern beleuchtete Sportplätze, die kostenlos genutzt werden. Von Freitag bis Sonntag sind die großen, mehrspurigen Straßen in der Nähe „für Freizeitaktiviäten“ gesperrt. Die Karnevalsatmosphäre ist ganzjährig spürbar in der Cidade Maravilhosa („wunderbare Stadt“) mit über sechs Millionen Einwohnern, die scheinbar alle das Samba-Temperament im Blut haben. Am Abend sehen wir eine dieser feurigen Tanzshows. Lebensfreude pur herrscht auch in den folgenden brasilianischen Orten, die wir mit der Astor ansteuern: Porto Seguro, Salvador, Recife und Natal.

Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien – es ist kein Klischee, dass Südamerika bunt, laut, leidenschaftlich, voller Lebensfreude und Temperament steckt. Nachdem die „MS Astor“ den Kontinent verlässt, bringen erst die Weiten des Atlantischen Ozeans etwas Abkühlung, das Wetter und die Stimmung betreffend.

Von Brasilien fuhren wir in drei Tagen zu den Kapverdischen Inseln, ein Archipel, eingebettet in die Weite des Atlantischen Ozeans, rund 560 km vor der Küste Senegals. Einst Umschlagplatz für Sklaven aus Afrika und Anlaufpunkt für die Wasser- und Nahrungsmittelversorgung der Seefahrer, haben die Kapverden heute außer kargen und trockenen Berglandschaften, rauen Schluchten und mittelmäßigen Stränden nicht viel zu bieten. Wir ruckeln mit einer Gruppe von österreichischen und italienischen Freunden auf der Lade eines kleinen LKWs über die holperigen Straßen durch die Berge. Mit lustigen Liedern am Strand und guter Stimmung wird es trotzdem ein toller Tag. Auf Gran Canaria, unserer nächsten Station, steigen viele Freunde aus. Bis zu unserer Ankunft in Bremerhaven ist nun fast jeder Stopp von Abschieden bestimmt. Nach dem Tränentrocknen verbringe ich mit Louisa einen schönen Tag am Strand in Las Palmas, wir essen frischen Fisch, feiern die Weltumrundung und kaufen auf dem Rückweg, weil wir uns verlaufen hatten und zufällig an einer netten Boutique vorbeikamen, zwei tolle Ball- und Cocktailkleider.

Abschied auch im nächsten Hafen – Madeira. Die Insel des ewigen Frühlings, die zu Portugal gehört und 1000 km von dem  Land entfernt liegt (bis Afrika sind es nur 580 km), ist überall von bunten Blumen wie Bougainvilleen, Mimosen und Jacarandabäumen überwuchert. Ein schwerer Duft liegt über dem Eiland, auf dem sich früher auch Kaiserin Sissi regelmäßig erholte. Wir verbringen den Tag in der farbenprächtigen Hauptstadt Funchal (300 000 Einwohner), testen uns im Keller der Avenida Arriaga 48 durch die verschiedenen Jahrgänge des Madeiraweins und besuchen die legendäre Yacht der Beatles, die hier im Hafen liegt.

Nach einem Tag auf See verlassen uns in  Lissabon weitere Freunde. Die Stadt, die auf fast zwei Dutzend Hügeln erbaut wurde, hat alte Stadtteile mit dorfähnlichem Charakter genauso zu bieten wie ein modernes U-Bahn-Netz und schicke Einkaufszentren. Wir erleben einen gemütlichen Stadttag mit Bummeln, Souvenireinkäufen und Kaffee mit Freunden.

Das französische Le Havre, wo die „Astor“ als Nächstes vor Anker geht, erschreckt uns durch seine DDR-ähnliche Betonplattenarchitektur (wurde durch 146 Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört, dann funktionell wieder aufgebaut). Schnell weg. Wir fahren mit dem Bus ein Stück hinein in die Normandie, die Landschaft der Herrenhäuser, Abteien und grünen Wiesen. Honfleur ist ein bezauberndes Städtchen. Hier genießen wir in einem typischen Café ein spätes Frühstück mit frischem Baguette, Croissants und heißem Kakao. Die Franzosen um uns genießen auch, unterhalten sich laut und gestikulieren, halten Händchen oder lesen Zeitung. Romantisch – wieder einmal ein Augenblick für die Ewigkeit. Anschließend feiern wir mit den Einwohnern von Honfleur ihr Hafenfest. Es ist Pfingsten und unzählige Spielmannszüge, Tänzer und Künstler beleben die Straßen.

Die letzte Station ist das englische Dover. Einige Passagiere fahren mit dem Zug oder Bus in das rund zwei Stunden entfernte London. Wir genießen lieber Dover, wo die Astor liegt, in Ruhe und mit vielen unserer Freunde. Die Engländer unter ihnen müssen hier aussteigen. Tränen. Winken. Danach beginnen wir mit dem Kofferpacken. Die letzten Tage vergehen wie im Flug. Adressen tauschen, Abschiedsgala, eine letzte durchfeierte Nacht, ein letzter Sonnenaufgang an Deck, dieses Mal vor Kälte frierend und zitternd, und dann drei Stunden Abschiedsdrama.

Eine einmalige Reise auf einem traumhaften Schiff geht zu Ende. In 148 Tagen um die Welt. Reisen auf der Astor sollen süchtig machen. 

Louisa und ich kommen garantiert bald wieder auf „unser Schiff“.

 

(Disy Winter 2005)

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